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Aliisa Aufzeichnungen Geschichten

Vor zwei Jahren[]

Aliisa duckte sich hinter dem wuchtig, aber fahrig langsam ausholenden Schlag hindurch, knallte dem betrunkenen Vater die Schüssel mit Kartoffeln, Gemüse und Geschnetzeltem samt wohlschmeckender Soße auf den Tisch, so dass es spritzte, und sprang zurück. Gerade rechtzeitig, um dem von einem Knurren begleiteten folgenden linken Haken zu entgehen.

Sie zog sich gen Haustür zurück, Löffel, Serviette und den Krug Dünnbier hatte sie ihrem Vater zum Glück schon vorher bereitgestellt gehabt. Als dieser ihr tapsig nachzukommen drohte, schlüpfte sie aus den großen, hölzernen Pantinen, schnappte sich ihre Stiefel vom Brett neben der Tür und floh barfuß nach draußen auf die Tenne und weiter durch die kleine, auf halber Höhe zweigeteilte Tür in dem riesigen, von außen grün gestrichenen Tor hinaus auf den Hof. "Aliiiiiiisa Malin Magnusson! Wenn ich dich zu fassen kriege...!" brüllte es hinter ihr her, ihr Vater zog ihren Namen in die Länge, als habe er mindestens fünf is und nicht nur zwei. Sie rannte rechts um die Hausecke und lehnte sich mit klopfendem Herzen gegen die Hauswand, deren abblätternde Farbe dringend einmal einen neuen Anstrich brauchen würde. Rechts von ihr lag eine niedrige Mauer mit einem schwarzen, schmiedeeisernen Tor darin, das zum Garten führte. Sprungbereit, dorthin weiter zu fliehen, sollte es Not tun, spitzte sie bangen Herzens die Ohren.

Morgen früh würde es Gustav wieder schrecklich leidtun. Das tat es immer. Ihr Vater liebte sie, das war zu spüren und dessen war sich Aliisa sicher. Dennoch verwandelte ihn der Schnaps in etwas schreckliches. Sie hörte es schon an der Art, wie er in die Tenne trat oder, wenn es besonders schlimm war, wie er schon draußen auf dem verwahrlosten Hof über etwas stolperte und fluchte. Wenn er nüchtern war, war er ein liebevoller Vater und ein umgänglicher Kerl. Zumindest so lange, bis er den Alkohol brauchte. Und gerade morgens war er zerknirscht und entschuldigte sich tränenreich bei seiner Tochter, die er dabei in die Arme schloss, was sie über sich ergehen ließ, sie brauchte es als Bestätigung für das was später folgen würde immer wieder aufs neue, und das, obwohl er dabei schlimmer stank als manches Wildtier.


Sie hörte Gustav vor der Haustür Verwünschungen brüllen, die Aliisa eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben müssten, in Anbetracht der Tatsache, dass es den Nachbarn bei der Lautstärke kaum entgehen könnte, wie ihr eigener Vater - der es ja eigentlich wissen musste - sie wortreich und wenig der Phantasie der Zuhörer überlassend mit einer überaus unzüchtigen Sturmwinder Hure unfeiner Herkunft verglich. Aber das war schon so oft geschehen, dass Aliisa sich darüber keinen Kopf mehr machte.

Als sich ihr Körper vor etwa zwei Jahren angefangen hatte zu verändern und die Schimpftiraden des besoffenen Alten sich in diese Richtung zu entwickeln begannen, hatte ihr das schwer zugesetzt. Einmal hatte die Nachbarin Stella Andersson die gerade eben zwölfjährige beiseite genommen und ihr erklärt, dass jeder hier wisse, dass die Anschuldigungen des Müllers, wenn er betrunken sei, in der Regel völlig haltlos und in ihrem Fall ganz und gar an den Haaren herbeigezogen seien. Man sähe doch, wie sie die kleine Familie Magnusson mit Ach und Krach zusammenhalten würde und dass sie gar keine Zeit für Männergeschichten habe, wozu sie ja eh viel zu jung sei. Seitdem trafen sie die aus einer seltsamen Seelentiefe des Vaters hervorsprudelnden, ekligen obszönen Beschimpfungen nur noch kurz und sie konnte sie zumindest vordergründig schnell abschütteln.

Dennoch mochten sie Narben hinterlassen, ebenso wie die Schläge, auch wenn diese auf ihrem Leib bisher zum Glück nicht zu dauerhaften Schäden geführt hatten. Dass sie immer mal wieder mit einem blauen Oberarm, einer geschwollenen Wange oder gar einem blauen Auge herumlief, entging natürlich keinem, aber das war Sache der Familie. Da mischte man sich im Arathihochland nicht ein, der Hausherr war so etwas wie der König im eigenen Haus und Hof, solange er seine Kinder nicht totschlug, war das seine Sache. Und vielleicht sogar dann.

Und unter der Hand war man durchaus der Ansicht, dass der rebellisch werdenden Aliisa von Zeit zu Zeit ein paar Schläge ganz gut taten. Zumindest unter den Männern dachte manch einer so. Stella war da eine Ausnahme, zudem eine Frau. Sie mischte sich ebenfalls nicht ein, aber sie missbilligte es, wenn auch still für sich. Sie kümmerte sich schon seit Jahren ab und an um die Nachbarstochter, sie zeigte Aliisa rudimentär wie man näht und wenn Gustav sie so erwischt hatte, dass es blutete, wusch sie Aliisas Wunde und Kleidung aus und verband das Mädchen. Sie hatte dabei meist einen verkniffenen Ausdruck um den Mund, aber gegen in ihrem kleinen Dorf doch relativ mächtigen Mühlenwirt das Wort zu erheben, war für sie undenkbar. Alle hier waren auf ihn angewiesen. Am besten wäre es, so dachte sie es sich, Aliisa schnell unter die Haube zu bringen. Und da würde es nichts schaden, dem mutterlosen Mädel ein wenig Hausfrauenarbeit beizubringen, damit sie als Eheweib nicht gleich die nächsten Schläge abbekommen würde.


Aliisa atmete tief durch, das Herz klopfte etwas langsamer, als die Hoftür zur Tenne wieder zuschlug und sie ihren Vater innen poltern hörte. Hoffentlich würde er jetzt essen, was sie ihm vorgesetzt hatte, solange es noch warm war, anderenfalls würde sie sicher nachher zu hören bekommen, dass sie nicht einmal dazu in der Lage sei, das Essen warm auf den Tisch zu bringen.

Sie konnte ihren Vater nicht hassen, aber den Alkohol, den hasste sie aus tiefstem Herzen. Das Leben hatte es nicht gut mit ihnen gemeint, es war eben rau im Hochland. Ihre Mutter war gestorben, als Aliisa fünf Jahre alt gewesen war und irgendwann vor ihrer eigenen Geburt war Gustavs erste Frau Linnea ebenso verstorben. Dazu war ihre kleine Schwester zwei Jahre nach dem Tod der gemeinsamen Mutter ertrunken, im Bach, gleich neben der Mühle, obwohl die kleine Lykke den Bach genau kannte und vor allem auch wusste, dass sie da ab der Biegung nicht schwimmen durfte, wo es zur Mühle hinging und die Strömung so stark wurde. Aliisa verstand bis heute nicht, was Lykke da gewollt haben konnte, zumal der Bach unterhalb der Mühle einen kleinen Teich bildete, mit flachen Ufern, in dem sich viel besser schwimmen ließ.


Die warmen Mauersteine durch die Kleidung im Rücken spürend, ging Aliisas Blick um die Hausecke, den Körper noch dahinter verborgen, zum leeren Platz vor der Tennentür und auch zur Mühle schräg rechts gegenüber herüber. Dort war alles in relativer Ordnung. Der Rest des Hofes war ein ziemliches Chaos aus alten, nicht mehr zu gebrauchenden Leiterwagen, kaputten Gerätschaften und Schmutz. Aliisa kämpfte im Haus für ein bisschen Häuslichkeit und Ordnung, sie konnte aber nicht alles bewerkstelligen, zumal hier draußen vieles einfach zu schwer für das Mädchen war.

Sixten fehlte ihr jeden Tag. Der große Bruder hatte sie beschützt, hatte sie unterrichtet. Sie konnte gut lesen und einigermaßen schreiben, wenn auch krakelig. Addieren und einfache andere Rechenarten hatte er ihr ebenfalls beigebracht. Immer wieder hatte er Aliisa Bücher gebracht, die sie Abends verschlang, wo auch immer er die hier in ihrem Dorf bekommen mochte. Aber vor allem hatte er sie noch etwas wichtigeres gelehrt: Sich selbst zu versorgen.


Schließlich als die Luft dauerhaft rein war, schlich Aliisa um die Hausecke, immer noch barfuß vorsichtig und leise auf den buckeligen kleinen Steinen balancierend, mit denen rund ums Haus ein Streifen des Hofes gepflastert war, bevor er in staubigen Sand überging.

Ganz behutsam hob sie den schweren, schwarzen Riegel vor der Werkstatttüre zwischen der Hausecke und dem Tor zur Tenne auf und schlich hinein. Ein leises Keuchen entschlüpfte ihr, flugs stopfte sie sich die Faust in den Mund und hüpfte auf einem Bein, hatte sie sich doch den rechten kleinen Zeh an einer im Schatten des Türpfosten abgestellten Axt gestoßen, Blatt unten, Stiel oben an die Tür gelehnt, zum Glück mit dem stumpfen Ende zu ihr zeigend. Ihre Flüche sprach sie in Gedanken, um nicht den Vater herbeizulocken. Endlich zog sie die nutzlos in den Händen gehaltenen Stiefel an, als der schlimmste Schmerz vergangen war, und hängte die Axt an die Halterung an der Wand, wo sie verflixt nochmal hingehörte, echt mal!

Auf der anderen Seite der Werkstatt hing ihr Bogen und ihr Köcher samt Pfeilen, sowie einige Fallen. All dies nahm sie nun an sich, dazu einen großen, ledernen Sack mit Schulterriemen. Sie verließ die Werkstatt nach einem vorsichtigen Blick durch die kleinen, schmutzigen und von Spinnweben halb verdeckten Glasscheiben auf den zum Glück vaterfreien Hof und trat auf eben jenen hinaus. Beschwingten Schrittes, wenn auch mit knurrendem Magen, so war sie selbst noch nicht dazu gekommen, ebenfalls zu essen, ging sie den ausgetretenen Sandweg entlang, der zwischen Stall und Wassermühle hindurch führte.

Die Sonne schien mild von Südwesten und ihre Schritte wurden ausgreifender. Zumindest für ihre kurze Beinlänge, denn Aliisa war klein, sie war schon immer klein gewesen, wenn sie in letzter Zeit endlich auch etwas gewachsen war. Knapp ein Meter fünfzig war sie bisher nur geworden, obwohl Vater und Bruder hochgewachsene Kerle um die einsneunzig waren. Vielleicht kam es von ihrer Mutter? Wie groß sie gewesen war, wusste Aliisa nicht. Damals als fünfjährige war ihre Mutter "groß" gewesen, aber was sagte das schon aus? Von der Mutter hatte sie wohl auch die dunklen Augen. Vater und Bruder und auch ihre kleine Schwester hatten himmelblaue Augen.

Sie schloss ihre Hand fest um den Griff des Bogens. Diesen hatte sie selbst gemacht, unter Sixtens Anleitung. Er passte von der Größe her genau zu ihr und ihrer Armlänge. Die ersten Bögen hatte der Bruder noch für sie angefertigt. So wusste sie, wie man das Holz aussucht, die Dicke, der gerade Wuchs, dass man darauf zu achten hatte, dass es möglichst wenig Äste und bloß keine verdrehte Rinde haben sollte, wie man es zum Lagern vorbereitetet, halbiert oder geviertelt, mit gegen zu schnelle Austrocknung geschützten Enden luftig gelagert. Und wie man zunächst einen Rohling, dann einen Bogen fertigte, wie man die Nocken, die Sehnenanker anfertigte, wie man den Bogen langsam bog, was er tillern nannte, wobei die eigentliche Form des Bogens herausgearbeitet wurde, indem allen noch zu steifen Stellen der Wurfarme zu Leibe gerückt wurde.

Ihr Bruder hatte richtig ins Erzählen kommen können, über Jahresringe, Früh- und Spätholz, und welchen Ring man für den Bogenrücken auswählte und so weiter und so fort. Offenbar hatte ihr Vater ihm in Sixtens Kindheit viel beigebracht, anders als jetzt bei Aliisa.

Sixten hatte die kleine Aliisa damals, als er sie für alt genug befunden hatte, mit in den Wald genommen und ihr den Umgang mit Pfeil und Bogen ruhig und geduldig erklärt. Er hatte ihr ebenso ruhig und ernst erklärt, dass sie mit ihrem kleinen Bogen auch Menschen töten könnte. Eindringlich hatte er ihr gesagt, dass sie nie, auch nicht im Spiel, unter keinen Umständen, auf einen Menschen zielen dürfe. Die großen, braunen Augen seiner vernünftigen Schwester hatten das alles aufgesogen. Und genickt hatte sie und versprochen hatte sie es ebenfalls. Er hatte ihr vertraut. Und das zurecht. Aliisas Selbstbewusstsein hatte dadurch einen ziemlich Schub getan. Ihr Bruder hatte sie für eine so ernste Angelegenheit für groß genug befunden. Er vertraute ihr.

Lange Jahre waren sie zusammen durch die Wälder gestrichen und Aliisa hatte auch alles über den Bau und das Aufstellen von Fallen, die Wahl des richtigen Köders und so weiter gelernt. Sie hatte sich geschickt angestellt und sich schließlich auch im Wald leise genug zu bewegen gelernt, bis Sixten nichts mehr zu meckern hatte an seinem kleinen Schwesterchen.

Heute war sie groß, fast schon erwachsen, und hatte wirklich niemals auf einen Menschen gezielt. Auf Bäume, Strohballen, kleine und größere Tiere dafür aber umso mehr. Auch wenn die Familie Magnusson für ihr kleines Dorf relativ viel Geld hatte, blieb das meiste davon beim Schankwirt und beim Schwarzbrenner. Woher das Fleisch im Essen seit Sixtens Auszug kam, hatte der Vater nie gefragt. Oder Aliisas Kleidung. Sie brachte die Felle, meist kleiner Tiere, zum Gerber und bekam dafür ein bisschen Leder und auch mal etwas grobem Stoff. Mit Stellas Hilfe, der sie dafür auch immer mal etwas Fleisch brachte, fertigte sie daraus Kleidung, nicht eben geschickt, aber genug um sie warm zu halten.


Die ersten Bäume tauchten auf und der Weg, an der rechten Seite eh schon von einem Knick begleitet, wurde zum Hohlweg. Dunkler war es hier, und still, solange sie sich bewegte. Wenn sie anhalten und ruhig stehen bleiben würde, würden die Vögel bald schon wieder zu zwitschern beginnen. Nur das Klopfen eines Spechts war von Ferne zu hören.

Im Wald ging so etwas wie eine kleine Verwandlung mit Aliisa vor: Ihre Schultern wurden straffer, der Gang aufrechter, der Blick zielgerichtet, die Füße wissend, wohin sie treten und wohin nicht. Sie ging zunächst die tägliche Runde ab, erntete das Kleinwild, das in ihre Fallen gegangen war, zwei Eichhörnchen waren es heute, und spannte die Fallen mit neuen Ködern. Anschließend schlich sie möglichst leise, den Bogen mit einem in die Sehne eingelegten Pfeil in der Hand, höchst aufmerksam zum nahen Wildwechsel.

Zu ihrer Enttäuschung war nichts zu sehen, nach links und rechts erstreckte sich ausschließlich der Wald. Dafür lag auf dem Boden frische Losung. Ob ein Hirsch hier langgekommen war? Sie wusste es nicht genau und bat die Ahnen, dass es kein Wildschwein sein möge. Sie folgte dem Wildwechsel sanft bergab. Wie sie wusste, führte er zu einer ausgewaschenen Biegung des Baches, an dem auch weiter flußaufwärts die väterliche Mühle stand. Dort fand sich immer mal wieder Wild ein, die Abdrücke in der weichen Erde und dem nassen Sand waren meist zahlreich.

Bevor Aliisa jedoch den Bach erreichen würde, schlug sie sich seitwärts in die Büsche und umrundete den Bereich weiträumig, um sich hinter einer großen Buche anzupirschen. Sixten hatte ihr vieles erklärt und beigebracht hier draußen. Es war ihre eigene Welt gewesen, die nur ihnen beiden gehörte, und manches Mal wäre Aliisa am liebsten einfach mit ihm hiergeblieben.

Aber auch die Wasserstelle war leer, vermutlich war es noch zu früh am Nachmittag. Aliisa lehnte sich an die Buche und nahm eine Position ein, die sie ruhig und gelassen eine längere Zeit aushalten können würde. Und wirklich, als sie dort eine Weile stand, reglos, als sei sie nun ein Teil der Buche geworden, begannen die Vögel zu zwitschern. Die Sonne warf helle Sprenkel auf den Waldboden und der Bachlauf, auf der anderen Seite der Biegung rasch dahinfließend, murmelte und gurgelte ein Stück weiter über einige kleinere Felsen.

Wenn es wirklich ein Hirsch wäre, so überlegte sich Aliisa, wüsste sie nicht einmal, ob sie ihn töten könnte. Und wenn, wie sie das viele Fleisch und die ganze Haut transportieren sollte. Da würde sie viele Male hin und her gehen müssen und jedesmal dem Vater in die Arme laufen können. Dennoch war sie neugierig.

Während sie wartete und das normale Leben im Wald seinen Fortgang nahm, wanderten Aliisas Gedanken zurück zum Hof und ihrem Vater. Gustav saß nun vermutlich am Fenster im hölzernen Erker zum Garten raus, rauchte Pfeife und trank. Hoffentlich Bier. Wie sie befürchtete: Schnaps. Es konnte so doch nicht weitergehen! Zum wiederholten Mal überlegte sie, wegzulaufen. Aber wo sollte sie hin? In ihrem Dorf kannte jeder jeden und auch im Nachbardorf war damit zu rechnen, dass man sie zum Müller Magnusson zurückschicken würde, und sie wagte nicht sich auszumalen, was er dann mit ihr anstellen würde. Vermutlich würde er sie totschlagen.

Als später tatsächlich ein Hirsch aus dem Wald trat, hielt Aliisa den Atem an. Er hatte ein riesiges Geweih und Ehrfurcht erfasste sie vor dem edlen und gewaltigen Tier. Sie sah zu, wie es in aller Seelenruhe eine ganze Weile lang trank und dann eben den Wildwechsel beschritt, den Aliisa auf dem Hinweg ein Stück entlang gegangen war. Sie hatte nicht einmal überlegt zu schießen. Das Tier hatte sie so beeindruckt, dass der Jagdinstinkt versagt hatte. Aber der Hirsch mochte auch zweimal so viel wiegen wie sei selbst. Und wenn er nicht sofort tot wäre, würde er ein gefährlicher Gegner sein. Neben dem Bogen hatte sie nur zwei recht kleine Messer dabei. Eins für den gewöhnlichen Gebrauch, ein zweites, anders geformtes zum Abziehen der Haut.

Erst spät machte sie sich auf den Rückweg, als ihre Gliedmaßen steif wurden und es im Wald dämmerte. Zu Hause schnarchte der Vater auf dem Sofa. Aliisa schloss die Tür zur Küche und aß mit großem Appetit ihr Essen, wenn auch kalt, um bloß Gustav nicht zu wecken. In dieser Nacht träumte sie von einem Hirschen, der sie auf seinem Rücken von hier fort trug.

Vor einem Jahr[]

Teil 1[]

Ein knappes Jahr später hörte Aliisa zufällig im Dorf davon, dass unten an der gepflasterten Straße, die die ehemalige Hauptstadt Stromgarde mit dem fernen Sumpfland verbindet, eine gewaltige Schar Reisende zur vierten Wollmesse auf der Burg Hohenwacht unterwegs seien. Wo auch immer dieses Hohenwacht liegen mochte.

Als Aliisa später am selben Tage auf den Dorfplatz zurück kam, auf dem sie morgens am Brunnen davon erfahren hatte, fand sie dort eine recht große Versammlung vor. Man saß um ein lustig prasselndes Feuer zusammen und eine helle Frauenstimme sang. Sie gesellte sich neugierig dazu und erkannte die singende Schildmaid wieder, die von Dorf zu Dorf zog, alle paar Monate auch in ihres kam und Nachrichten, Sagen, Märchen brachte und die Menschen damit und mit ihrem Gesang erfreute. Die junge Frau mit dem langen, lockigen Blondschopf und dem kecken Blick unterhielt die Freisassen mit Liedern und Anekdoten. Manch Eheweib sah sie lieber gehen als kommen, hieß es doch, dass die selbstbewusste Maid in der richtigen Laune nachts die Tür ihrer Kammer unversperrt ließ, die ihr der gastgebende Bauer zum Dank überließ. Was das ganz genau bedeutete, hatte man Aliisa nicht erklärt, aber sie hatte da so eine Ahnung.

So hörte Aliisa später am Abend mehr von dieser Wollmesse, wie lange sie ging und wo sie stattfand. Und auch über den großen Trupp der Reisenden hörte sie, in der Mehrzahl Händler und Schaulustige, die aus dem Süden zur Messe angereist waren und eine knappe Woche später den gleichen Weg zurück nehmen würden.

Zwei Tag danach fiel ihre Entscheidung und Aliisa bemühte sich noch mehr als sonst schon, ihrem Vater alles Recht zu machen. Daneben packte sie ihr Bündel, schärfte die Messer, spitzte die Pfeile und pflegte Bogen wie Sehne gründlich. Sie stellte alles für ihren Aufbruch bereit. Doch am Abend, bevor sie am nächsten Morgen aufbrechen wollte, wenn Gustav noch schlafen würde, passierte es: Aliisa stolperte auf dem Weg zum Esstisch. Ihr Vater hatte eigentlich einen eher guten Tag erwischt, offenbar hatte er heute nur Bier und keinen Schnaps bekommen. Doch als seine Tochter über Gustavs ungewöhnlich abgestellten Rucksack (doch wofür hatte das unnütze, junge Ding denn bitte Augen im Kopf?) stolperte und dazu noch das gute Essen verschüttete, und das auch noch brühend heiß auf den rechten Oberschenkel des Vaters, war es um die gute Stimmung geschehen.

Die gellenden Schreie des Mädchens, dessen blanker Hintern über einen Stuhl gebeugt vom Lederriemen des väterlichen Gürtels kraftvoll bearbeitet wurde, hallten durch das Dorf und ließen Stellas Herz stocken. Doch niemand kam, um nach ihr zu sehen. Immerhin musste sie ja am Leben sein, solange sie schrie.

Nachdem die Tortour vorbei war, blieb Aliisa kurz allein zurück, ihr Hintern bestand nur noch aus Schmerz, die Welt aus Schlieren ihrer Tränen. Ihr Hals war rau und ihre Hände verkrampft um die Beine des Stuhls, wie auch der Rest ihrer Muskeln. Anders als bei manch früherer Gelegenheit hatte sie es immerhin geschafft, ihr Wasser zurückzuhalten, das ihr bei solch einer Tortour schon mal zwischen den Beinen herausgelaufen war. Der Vater kam zurück aus ihrer Kammer, den klimpernden Münzbeutel triumphierend in der Hand. Glück im Unglück: Wenigstens hatte er ihr gepacktes Bündel unter dem Bett nicht gefunden! Unter Vorwürfen und Beleidigungen der ungeschickten, verhurten Schlampe, die er an seinem wohltätigen Busen großgezogen habe, verließ er das Haus, mit Aliisas Geld, um, wie er sagte, im Gasthaus für das Abendessen entschädigt zu werden, der Rest sei Schmerzensgeld für seinen brennenden Schenkel.

Es waren keine großen Reichtümer, die meisten im Dorf hatten in Naturalien gezahlt oder in Form von Arbeit, für Fleisch und Leder. Aber nun war sie selbst zerschunden, mittellos und die beste Gelegenheit seit Jahren, von hier fort zu kommen, wurde ihr förmlich genommen. Vorsichtig tastete das junge Mädchen ihre Kehrseite ab. Blut und Schweiß, zum Glück nicht sehr viel Blut. Sie schleppte sich ins Bad und kühlte eine Weile ihre brennende Kehrseite mit einem nassen Waschlappen. Als es irgendwann aufhörte zu bluten, rieb sie ihren Po mit einer Salbe ein, die ihr Stella einmal für ein fettes Kaninchen aufgedrängt hatte. Sie sollte die Heilwirkung unterstützen und tatsächlich hatte Aliisa das Gefühl, ihre Blessuren würden mit ihrer Hilfe schneller heilen.

Sie wusste, wie sie sich morgen früh fühlen würde. Zerschlagen, steif, erniedrigt und unfähig, sich zu bewegen. Schwankend zwischen Verzweiflung und Zorn traf Aliisa eine impulsive Entscheidung: Schon kurze Zeit später schritt sie, das Dorf hinter sich lassend, im Dunkeln den sandigen Weg das Tal herunter entlang. Die gepflasterte Straße, ihr Ziel, lag einige langen Meilen entfernt tief unten im Tal. Ihr Hinterteil brannte und jeder einzelne Schritt schmerzte. Doch auch wenn das Leben im Hochland hart war, es machte einen zäh und fast alle hier hatten einen ziemlichen Dickkopf. So war es hauptsächlich dem ihren zu verdanken, dass Aliisa weder kehrt machte noch irgendwo auf dem Weg zusammenbrach.

Sie schleppte sich, einen Fuß vor den anderen setzend, durch die Nacht. Bislang war sie in ihrem Leben noch nie weiter fort gewesen als bis zum Nachbardorf, so begann das große Abenteuer fast schon mit den ersten Schritten. Immerhin war der Weg relativ eben und der Mond kam hinter Wolken hervor, so dass sie wenigstens sah, wo sie langlief.


Teil 2[]

Merten Schauleitner saß gedankenverloren auf seiner weißen Stute vor dem Wagen mit seinem Hab und Gut, den sein Knecht Christoph vom Kutschbock aus lenkte. Die Verkäufe auf der Wollmesse waren ausgesprochen gut verlaufen. Viele hatten Heilkräuter, Salben oder dergleichen erworben und manch kichernde Magd hatte nur zu gern die Liebestränke des schmucken Sturmwinder Apothekers mit den langen blonden Goldlocken und dem unbesorgten, schamlosen Lächeln im Gesicht gekauft. Manche hatte ihm Nachts auch ihre Gunst geschenkt, aber in der Beziehung hatte er es meist leicht, das Leben hatte ihn reich bedacht mit Gaben und Aussehen, Geschmack und Kultur. Frauen betrachtete er im wesentlichen als Spielzeuge.

Nachdem der sich wohl über eine Meile lang hinziehende Wagenzug, in dem er recht weit vorne ritt, den Abzweig zur sogenannten Zuflucht schon eine Weile zuvor passiert hatte, bemerkte er auf einem Findling zur Rechten der Straße eine abgerissene Gestalt, die winkte und dann auf den vordersten Reiter zulief. Aus der Ferne war nicht viel zu erkennen, es war offenbar ein Weib, blond wie die meisten hier im Norden, was es wollte, war unklar. Aber nach der kurzen Unterredung mit dem Anführer des Reisezuges ging sie die Wagen entlang, fünf Stück waren es an der Zahl, die vor Mertens Wagen eingereiht waren, doch auch wenn der eine oder andere Kutscher schon einen zustimmenden Ausdruck hatte bei dem, was das Weib fragte, schüttelte die zugehörige Frau stets den Kopf. Als das immer wieder verwiesene Weib näher kam, erkannte er, dass es sich um ein Mädchen handelte, oder doch um eine sehr junge Frau.

Mertens Interesse war geweckt und er beobachtete gespannt die weiteren Verhandlungen. Als sie auch beim letzten Wagen abgewiesen wurde und auf ihn zu kam, konnte er das junge Ding genau in Augenschein nehmen: Er erblickte ein Mädchen oder eine wirklich sehr junge Frau mit gefälligem Gesicht und etwa schulterlangem, blondem Haar. Nicht der erlesene Goldton seiner eigenen Haarpracht, aber es wird eben nicht jeder von der Natur mit solch einer Schönheit ausgestattet.

Ihre primitive, bäurische Kleidung saß teilweise recht eng, als ob sie eigentlich schon aus ihr herausgewachen wäre. Dadurch kam ihre ordentliche Oberweite und ein ebenfalls ansehnlich gerundeter Po zur Geltung und Mertens Interesse steigerte sich erneut, auch eine gewisse vorfreudige Anspannung in der Lendengegend gesellte sich dazu, als er die mollige, aber seinem Auge durchaus gefällige junge Frau betrachtete, die da auf ihn zu kam. Als sein Blick an dem jungen Weibe weiter nach oben glitt und er ihr Antlitz anschaute, das von ihrem blonden, kurzgeschnittenen Haar, das ihr bis zur Schulter ging, umrahmt war, blickten ihn aus dem fein geschwungenen Gesicht verständig wirkende und, anders als er es hier beim Volk des Hochlandes erwarten würde, dunkle Augen unter ebenso dunklen Augenbrauen entgegen. Ihr Blick und die hübschen Gesichtszüge ließen auf Verständigkeit und geistige Reife schließen, im leichten Kontrast zu ihrer sehr jung wirkenden Haut. Und irgendwie wirkte ihr Leib, obwohl durchaus mit weiblichen Formen gesegnet, noch nicht vollständig ausgewachsen.

Ihre Kleidung war offensichtlich nicht zu dem Zweck gemacht, ihre körperlichen Vorzüge anzupreisen, sondern saß einfach nicht gut. Hier und da war auch mit grober Naht ein Zwickel eingesetzt oder ein verlängerndes Stück angenäht, wie er feststellen konnte, als seine Blicke wieder rasch über ihren Leib wanderten. Auch der Bauch, die Schenkel und die Arme waren sanft gerundet, ohne schwabbelig oder dick zu sein, was natürlich noch kommen könnte, oder aber auch nicht, je nachdem, wie sich das arathische Weib, das da vor ihm stand, weiter entwickeln würde.

Schon heftete sich ihr dunkler Blick auf ihn und sie sprach Merten an: "Werter Herr, ich möchte in den Süden mitreisen. Ich kann die meiste Strecke zu Fuß gehen, aber im Moment bin ich verletzt und brauche eine Weile eine Mitfahrgelegenheit. Habt ihr Platz auf eurem Wagen?" fragte ihn die junge Frau. Merten konnte sich vorstellen, warum die Weiber dies Mädel nicht auf ihrem Wagen hatten haben wollten. Zwar wirkte es nicht verdorben, aber auch andere Kerle hatten Augen im Kopf und ein ordentlicher Vorbau und Hintern würde bestimmt manchen Kerl schwach zu werden drohen lassen.

Er hätte selbst nichts dagegen, das Mädchen einmal genauer kennenzulernen, ihre geschwungenen Formen zu erforschen und sich mit ihr zu vergnügen. Sie wirkte zwar nicht gebildet, arm und bäurisch, aber was machte das schon, er hatte ja nicht vor, sie in Sturmwind als seine Gattin auszuführen. So nickte er. "Ja, den habe ich durchaus. Kommt, ich helfe euch." So sprang er geschwind aus dem Sattel zu der verdutzt wie freudig überraschten jungen Frau, die ihn erleichtert anstrahlte.

Merten band den Zügel seines Pferdes hinten an seinen Wagen, half dem Mädchen hinauf und folgte ihr nach, sobald sie unter der Plane des langen Gefährts verschwunden war und den Anblick ihrer Kehrseite bedauerlicher Weise seinem Blick entzogen hatte. Ebenfalls oben angelangt erklärte er ihr: "Ich bin Merten Schauleitner, Bader, Gelehrter und Apotheker aus Sturmwind, meine Schöne. Willkommen in meinem bescheidenen Wagen." Sein Wagen war nicht sonderlich bescheiden, ebensowenig wie seine Vorstellung, wenn auch nicht protzig. Wohlhabend und zweckdienlich traf es eher. Innen fanden sich mehrere gut verzurrte Schubladenschränkchen mit zahllosen winzigen Fächern. Darüberhinaus diverse Säcke und Beutel mit fremdartig duftendem Inhalt, zum Teil von der Holzkonstruktion herabhängend, die die Plane des Wagens hielt. Es lag ein würziger Kräuter- und Medizinduft in der Luft, den das Mädchen nicht zuordnen konnte.

"Ich bin Aliisa Ma... Mårtensson." erklärte sie etwas stockend. Verflixt, einen anderen Namen, das hätte sie sich doch auch eher überlegen können! Der Vorname war nun gleich geblieben, aber wenigstens den Nachnamen hatte sie etwas abgeändert. Aber da riss sie auch schon die nächste Frage aus den Gedanken: "Wie alt bist du denn, Aliisa?" fragte er vertraulich das du nutzend und den offenbar falschen Nachnamen ignorierend.

"Äh... siebzehn bin ich, Herr!" erwiderte diese. Merten dachte sich, dass sechzehn vermutlich eher hinkommen würde, aber das war unerheblich. In Wirklichkeit war Aliisa noch vierzehn, ganz knapp vor ihrem fünfzehnten Geburtstag, und würde in Sturmwind erst in einigen Wochen als volljährig gelten. Aliisa wollte, dass man sie ernst nehmen würde. Dass man ihr zutraute, was sie anzubieten hatte. Und das war die Kleinwildjagd, die sie seit Jahren kannte. Da sie ja nun kein Geld mehr hatte, würde sie versuchen müssen, bei der Verpflegung des Reisetrupps zu helfen, wenn bloß ihr brennendes Hinterteil wieder heil wäre. Hoffentlich hatte es nicht angefangen zu eitern.

"Und du bist verletzt? Vielleicht kann ich dir helfen? Ich bin Bader und Apotheker. Ich kenne mich mit Heilpflanzen und ihren Wirkungen aus. Ich fertige Tinkturen und heilenden Salben. Ich biete Verbände und Tropfen, Pillen und Pasten, alles was das Herz begehrt und der Körper verlangt!" erklärte er sich ein wenig pathetisch anpreisend. Aliisa sah auch angemessen beeindruckt aus, was Merten schmeichelte. Er stellte sich bereits vor, wie ihm wohl das junge Ding aus Dankbarkeit und Ehrfurcht zu Willen sein würde, das da in seinen Wagen gestiegen war.

"Ich habe leider kein Geld, um Euch zu bezahlen, Herr Schauler." "Schauleitner" verbesserte Merten und niedlicher Weise wurde Aliisa etwas rot und wiederholte das korrekte "Herr Schauleitner" in ihrer eigenen, hellen Stimme. "Da werden wir uns schon handelseinig, junge Dame." sprach er amüsiert und legte den Kopf schief. "Wo bist du denn verletzt?" Aliisa stemmte die Hände in die Seiten. "Ich stamme zwar aus dem hinterletzten Bergdorf, aber ich bin nicht blöd. Ich teile nicht für ein bisschen Salbe das Bett mit Euch, Herr Schauleitner. Und wenn ihr mich nur in dieser Aussicht auf euren Wagen gebeten habt, sagt das gleich, dann frage ich weiter nach ehrlicher Hilfe!" Ihre dunklen Augen blitzen.

Merten schluckte. "Nein nein!" beeilte er sich zu sagen, obwohl sie den Kern der Sache sehr gut erfasst hatte. Verflixt, so leicht würde es offenbar nicht werden. Doch auf das "nein nein" sah das Mädchen schon entspannter und erleichtert aus, offenbar hatte sie die Vorstellung, weiter fragen zu müssen, nicht eben angezogen. So fuhr er fort: "Wenn du gesund bist, kannst du die Kosten bei mir abarbeiten. Was kannst du denn tun?" Aliisa atmete tief durch. Das lief besser als gehofft. "Ich jage." Sie hielt ihren Bogen hoch. Im Rucksack klapperten die Fallen, die sie auf der Reise wohl kaum einsetzen konnte. Wie gut die Jagd in unbekanntem Gebiet klappen würde, wusste sie auch nicht, aber das war das einzige Pfund, mit dem sie wuchern konnte.

Nun war Merten beeindruckt, oder zumindest überrascht. "Na gut, kochst du auch?" fragte er. Aliisa nickte. "Gut, dann biete ich dir einen Handel an. Ich strecke vor, was zu deiner Genesung nötig ist, wende es selbst an, bis du ganz gesund bist und biete dir für die ganze Reise einen Platz im Wagen an. Dafür arbeitest du hinterher den doppelten Wert dessen ab, was ich aufgewendet habe, weil ich in Vorleistung gehe. Dafür werde ich dir ganz ehrlich sagen, welchen Preis das hat und wir werden auch deine Jagdbeute und deine Arbeit beim Kochen mit einem vernünftigen Wert anrechnen. Einverstanden?" Aliisa nickte erfreut und erleichtert, sie konnte es kaum noch aushalten mit der Hose auf der wunden Haut und sehnte sich danach, eine Weile ruhig auf dem Bauch zu liegen. Am liebsten ohne Hose, aber das ging natürlich nicht.

Ihr ging erst eine Weile nach dem besiegelnden Handschlag auf, dass ein Teil der Abmachung in Anbetracht der Art ihrer Verletzung recht unschicklich war. So wurde sie auch feuerrot, als Merten fragte: "Wo bist du denn verletzt, Aliisa?" Er betrachtete das Mädchen überrascht, als dieses so rot wurde und verlegen stammelte "An einer undenkbaren Stelle, Herr. Ich werde sie besser selbst behandeln." Merten schüttelte den Kopf. "Ich bin Bader. Vor mir muss dir nichts peinlich sein. Erzähl mir einfach, was du hast." sagte er und hoffte halb, und fürchtete halb, es hätte etwas mit ihren fraulichen Organen zu tun. Er würde sich zwar nur zu gern mit ihnen beschäftigen, doch weniger des Berufes wegen.

"Ich... äh... mein.... e Kehrseite..." stammelte Aliisa vor sich hin. "Dein Hinterteil ist verletzt?" fragte Merten überrascht. "Hast du dich in Dornen gesetzt oder so?" Aliisa schüttelte den Kopf. "Nein, keine Dornen. Ich ..." verflixt, das hätte sie sich ja nun wirklich eher überlegen können, woher die Striemen stammen. "ich bin die Kellertreppe runtergefallen..." murmelte sie kaum hörbar etwas lahm. "Oh. Eine Verstauchung? Schmerzt dich der Steiß?" Aliisa blinzelte. "Äh nein..." Merten nickte. "Na dann zeig mal her." forderte er ganz ruhig und bat Alisa zu einer Bettstatt weiter vorn. "Leg dich dahin, zieh die Hose runter, auch das Höschen, wenn du eins trägst, und ruf mich, wenn du fertig bist." Damit verschwand er in dem Abschnitt des Wagens mit den Schubladenschränkchen und zog einen Vorhang zu.

Aliisa schaute sich um. Die Bettstatt für eine Person war gemütlich eingerichtet, ein großes Kopfkissen, eine weiche Decke und zahlreiche kleine Kissen, in fremdartigen Mustern bestickt. Sehr südländisch wirkte das alles auf Aliisa. Vermutlich schlief dort der Herr Apotheker selbst. Wo wohl der Mann auf dem Kutschbock schlief? So oder so, es half nichts, also legte sie ihren Rucksack, Bogen und Köcher ab, öffnete den Gürtel und zog die Hosen, die unangenehm eng am Hintern klebten, auf die Oberschenkel runter und legte sich auf das Bett. Dort zog sie den hinteren Teil des Höschens runter und hoffte, der Herr würde zwischen den geschlossenen Beinen und dem Höschenstoff nichts von ihren privateren Körperteilen weiter vorn zu Gesicht bekommen.

Als Merten auf ihre Aufforderung hin eintrat, benahm er sich sachlich schlicht und ließ nicht erkennen, wie sehr ihn der erblößte Weiberhintern erregte. Als er näher trat, legte sich die Erregung aber. Nicht weil er das junge Ding plötzlich abstoßend fand, sondern wegen der Art ihrer Verletzung. Die Striemen des Lederriemens waren deutlich zu sehen. Leise knirschten Mertens Zähne, aber er gab keinen Kommentar ab zu der seltsamen "Kellertreppe", die sie da heruntergefallen sein wollte. Statt dessen erklärte er Aliisa, deren Herz wild bis zum Hals pochte - kein Kerl hatte bisher je ihren Hintern gesehen, na gut, bis auf den Vater natürlich - wie er beabsichtigte, vorzugehen.

Eine Hand legte sich beruhigend auf ihre verkrampfte Schulter. "Entspann dich ein bisschen. Ich werde die Wunden reinigen und dann mit einer Salbe versehen. Das Reinigen wird etwas brennen. Wenn es zu sehr weh tut, sag Bescheid, ja? Die Salbe wird aber das Brennen lindern." Aliisa nickte und verspannte die Schultern noch mehr. "Aliisa, du wirst wieder gesund. Wir bekommen das hin. Und dass ich dich so gesehen habe, das erfährt niemand sonst, das bleibt zwischen Arzt und Patient. Entspann dich bitte." Ein wenig Druck übte er auf ihre harte Schultermuskulatur aus und streichelte sacht kurz das Schulterblatt, ehe sich die Hand wieder löste.

Solch zarte Zuwendung war Aliisa gar nicht gewöhnt. Sie entspannte sich tatsächlich, schnaufte aus und die Schultern sanken ein Stück auf das Bett herunter, sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich so sehr verkrampft hatte. "Ich ... ja." gab sie nach und Merten ließ Wasser in eine Schüssel laufen, über der er anschließend ein paar Blätter zerrieb, die einen würzigen, aber auch scharfen Geruch hatten. Er tunkte einen Lappen in das Wasser. "Es ist leider kalt, da kann ich hier nicht viel machen. In Sturmwind würde ich angewärmtes Wasser nehmen." erklärte er dem Mädel. "Ich werde es überleben." murmelte diese, zuckte dann aber doch zusammen, als das kalte Wasser ihre Haut netzte. Die Kälte war aber rasch vergessen: Sie zog die Luft scharf durch die Zähne ein, als das Brennen anfing. "Geht es?" fragte Merten. "Ich mach schnell und gründlich." versprach er und tatsächlich, ganz anders als er sich das vorhin noch ausgemalt hätte, nutzte er die prekäre Situation keinesfalls aus, um ihr geschwungenes Hinterteil, das ihn in einer anderen Situation äußert lüstern machen könnte, mehr als für die Behandlung notwendig zu berühren.

Er hörte und sah Aliisas Schmerzen, auch wenn das Mädchen tapfer nicht klagte oder jammerte und nie sagte, dass es zu viel sei. Sie gab keinen Mucks von sich, aber ihr Atem, ihre erneut angespannten Muskeln sprachen eine klare Sprache. Außerdem wusste er selbst, wie diese Tinktur auf einer wunden Haut schmerzte. Und hier war großflächig das ganze entzückende Hinterteil brutal vermöbelt worden. Merten war nicht mehr erregt, er war furchtbar wütend auf denjenigen, der ihr das angetan hatte. Ob sie ihrem Mann davon gelaufen war? Hier im unzivilisierten Norden war alles denkbar.

Nach der Wäsche tupfte Merten das wohlgeformte, verletzte Körperteil behutsam trocken und verrieb mit den Fingerspitzen sehr sanft eine wohlduftende Salbe, die, wie er es versprochen hatte, das Brennen linderte. "Mmmh das tut guuut..." murmelte Aliisa, von der jetzt allmählich die ganze Spannung abfiel. Die unter Schmerzen durchwanderte Nacht, der Schreck über den viel zu früh auftauchenden Reisezug, den sie anderenfalls voll verpasst hätte, die Sorge, ihn erreicht zu haben, aber nicht mitgenommen zu werden, nur weil sie nicht selbst nicht mehr weiter gehen konnte, so verletzt. Die Angst, dass der Kerl, der sie dann aufgenommen hatte, nur mit ihr ins Bett wollte. All das fiel ab. Sie hörte Mertens Worte "Am besten ruhst du dich eine Weile aus. Lass deinen Po unbedeckt und bleib auf dem Bauch liegen. Ich gehe hinaus und schließe den Vorhang. Wenn du mich brauchst, ruf mich, ja?" schon gar nicht mehr vollständig, vorher war sie bereits eingeschlafen, mit vor Heilsalbe glänzendem Po.

Aliisa wachte ein paarmal auf. So ein Reisezug ist eine laute Angelegenheit: Rufe der Kutscher, Rumpeln der Räder, Knarren der Wagen, Laute der Pferde und von den anderen Tieren. Ganz zu schweigen von den sich teilweise munter unterhaltenden Menschen. Gelegentlich ging es schneller, dann mal langsamer voran. Doch Aliisa hatte eine angenehme Haltung auf dem Bauch gefunden und schlief auf der weichen Matratze, die einiges der Ruckelei abfederte, immer wieder ein. Als sie schließlich richtig aufwachte, lag ein dünnes, sehr sauber aussehendes Stofftuch auf ihrem Hinterteil, wie sie mit einem schnellen, etwas besorgten Blick feststellte, und Merten hielt ihr einen Becher warmen Tee hin, dessen Duft sie wohl aufgeweckt hatte, was die Laute des Lageraufschlagens nicht vermocht hatten, den der Reisezug stand inzwischen und sie hörte die vielen Menschen draußen an ihren Feuern werkeln und reden.

Merten kümmerte sich anständig um Aliisa. Sie durfte die erste Nacht in seinem weichen Bett schlafen und erst nach der dritten Behandlung durfte sie sich wieder richtig anziehen und aufstehen. Merten hatte ohne Kommentare den Nachttopf ausgeleert und neben ihr geschlafen, ohne sie zu berühren, außer unabsichtlich bei einer nächtlichen Drehung, nach der er sich aber auch gleich wieder zurückgezogen hatte.

So war Aliisa äußerst zutraulich geworden und betrachtete ihn fast schon als so etwas wie ein neues Familienteil. Auf der Reise durch das Hochland, die Sümpfe und die Ebene von Loch Modan wurden die beiden immer vertrauter miteinander. Merten flirtete offen mit ihr, nachdem ihr Po wieder verheilt war. Zumindest hatte sich nun junge Haut gebildet und der guten Pflege war es wohl zu verdanken, dass keine Narben zurück blieben und das hübsche, junge Hinterteil verunzierten.

So war es nicht verwunderlich, dass die beiden in den kalten Nächten von Dun Morogh zueinander fanden und Aliisa nun nicht mehr hinten auf dem Boden zwischen den Apothekerschränken schlief, sondern vorn bei ihm im Bett. Merten bekam die ersehnte Gelegenheit, die sanften Rundungen seiner Aliisa alle ganz genau zu erkunden. Er staunte nicht schlecht, als ihm unzweifelhaft klar wurde, dass er das Mädel da gerade entjungferte. Ihr Ehemann konnte ihr das also wohl doch nicht angetan haben. Nachdem diese erste, schmerzhafte Erfahrung vorbei war, führte er Aliisa nach und nach in die Kunst der Liebe ein.

So kam Aliisa viel gesünder, wenn auch sehr viel weniger jungfräulich in Sturmwind an, das letzte Stück in der Tiefenbahn mitfahrend. Als Apotheker hatte er ihr die passenden Kräuter gegeben, die verhinderten, dass ihm das junge Ding schwanger wurde. Sie war offenbar nicht dumm und auch neugierig und wissbegierig, aber als Frau wünschte er sich eine gebildete Sturmwinderin, die eher seinem Aufstieg förderlich war, als ein Niemand aus den Bergen Arathors.

Aliisa hielt sich an ihre Abmachung. Sie hatte sich während der Reise nach den ersten Tagen der Schonung den Jägern angeschlossen, die Abends für Fleisch sorgten. Einige taten dies auch tagsüber zu Pferd, da konnte Aliisa natürlich nicht mittun. Aber auch so hatte sie sich zu Mertens Überraschung einiges Ansehen erworben. Als er den bärbeißigen Anführer des Reisezugleiters, der Abends auch die Jagd anführte, nach ihr fragte, bekam er ein "gutes Mädel, die versteht's" zu hören, was von dem wortkargen, mundfaulen Gesellen, der eigentlich nur etwas sagte, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen lief (was oft genug der Fall war), einem großen Lobe gleich.

Merten lehrte Aliisa auf der Reise einige Heilkräuter zu erkennen und bei einzelnen auch, wofür sie gut waren, so dass sie ihm bei ihren abendlichen Streifzügen wertvolle Kräuter mitbringen konnte.

In Sturmwind wurde Aliisa allerdings nicht heimisch. Zu groß, zu schmutzig war ihr die Stadt, und es war für sie hier kein Geld zu verdienen. Sie wohnte letztlich bei einem Bauern in Elwynn, half dort für Kost und Logis den halben Tag bei seinen Arbeiten, nachmittags erkundete sie die Wälder, stellte ihre Fallen auf und jagte erneut Kleinwild, wie zuvor zu Hause, alles was nicht unter Wilderei fallen würde.

Aliisa kam immer mal wieder nach Sturmwind zum beeindruckenden Stadthaus von Merten und das nicht nur, um die Reste ihrer Schuld bei ihm abzubezahlen. Sie betrat es stets durch den Dienstboteneingang, wobei sie auch das Fleisch mitbrachte. Teils wartete sie lange auf ihn, manches Mal auch vergeblich, aber wenn er dann Zeit für sie hatte, verbrachten sie einige wundervolle Stunden miteinander, bis sie früh am Morgen zurück musste.


Teil 3[]

Finsteren Schrittes stapfte Sixten auf das väterliche Gehöft zu, die Schultern unbewusst angespannt hochgezogen. Auch wenn er inzwischen ein ausgewachsener, gestandener Mann war und stark genug, Gustav Paroli zu bieten, die regelmäßigen Schläge während seiner Kindheit und Jugend, ja selbst noch als junger Mann, um Aliisa zu schützen, hatten ihn geprägt.

Am Abend vor drei Tagen hatte ihn seine Frau zurückgehalten, als er die Fäuste ballend am Fenster gestanden und zum väterlichen Hof hinübergeschaut hatte. Er hatte die Not seiner Halbschwester, Aliisas Pein, ihre Schreie, deutlich von ferne gehört. Vielleicht war es auch ganz gut gewesen, dass Lilly ihn daran gehindert hatte, herüber zu gehen, wer weiß, wozu er sich im Zorn hätte hinreißen lassen. Sixten fragte sich immer wieder, ob es richtig gewesen war, auszuziehen. Er hatte Aliisa mitnehmen wollen, aber das hatte Gustav nicht geduldet.

Letztlich hatte er den Schritt nicht in erster Linie Lillys wegen gewagt, sondern weil Aliisa ihm immer wieder zuredete. Und natürlich war es richtig, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, eine Familie zu gründen, einen Hof zu führen. Aber seine Schwester dauerte ihn zutiefst. Und er war immer voller Sorge, ob sein Vater sich nicht im Suff doch einmal an ihr vergehen würde, wo sie nun deutlich fraulicher geworden war als das kleine Mädchen, dem er damals im Wald den Umgang mit Pfeil und Bogen gezeigt hatte.

Gustav hatte ihm nun schon zwei Mal erklärt, Aliisa sei krank und er könne sie nicht sehen, gestern und vorgestern, jedes Mal die gleiche Leier. Nun hatte er genug. Er würde sich nicht nochmal abwimmeln lassen, nicht heute! Hart steiß er die Tennentür auf. Erschreckend, wie der Hof aussah, seit er fort war. "Vater?" rief er laut. Von innen, aus der Wohnung, war ein Poltern zu hören.

So trat er ein, durch die Tür, die von der Tenne in den Wohnbereich führte, gelangt er in die große Wohnküche mit dem großen, schmiedeeisernen Herd, doch hier war weder vom Vater noch von Aliisa, die sonst um die Zeit oft am Herd stand, etwas zu sehen. Gustav kam ihm aus dem Wohnzimmer, zu dem eine Tür linker Hand führte, unsicheren Schritts entgegen gewankt. "Was willst du schon wieder?" nuschelte Gustav ein wenig unartikuliert.

Sixten stemmte die Fäuste in die Seite, um nichts dummes mit ihnen zu tun. "Was ich will? Bei den Ahnen, ich verlange meine Schwester zu sehen!" Gustav trat ihm in den Weg, so dass Sixten den Schnapsatem riechen konnte. "Sie ist krank. Sie schläft, lass sie in Ruhe, Sixten." kam es ihm entgegen. Sixten schnaubte. "Ich hab nicht vor sie zu wecken. Lass sie mich sehen, dann lass ich euch auch in Ruhe." Der Vater verschränkte die massigen Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. "Nein."

"Hast du sie so zu schanden geschlagen, dass du dich schämst, wenn ich sie so sehe, du widerlicher Säufer?" schimpfte Sixten los. Gustav lief rot an und brüllte - sehr sinnvoll, wenn die Tochter doch angeblich Schlaf brauchte - "So nennst du mich nicht in meinem eigenen Haus, du elende Missgeburt!" Er löste die verschränkten Arme und seine rechte Faust raste auf Sixten zu. Dieser kannte das und inzwischen war er stark genug, die Faust einfach in seiner offenen Hand aufzufangen und zusammenzuquetschen. "Lass mich durch, sonst tu' ich dir weh, Vater!"

"Raus aus meinem Haus!" keifte dieser wütend und versuchte, seinen Sohn mit der linken zu erwischen. Diesmal hatte er mehr Glück, er streifte Sixten immerhin. Dieser - nun hinreichend sauer und dem betrunkenen Vater körperlich überlegen - rammte diesem die Faust in den Magen und schob den nach Luft schnappenden an die linke Wand, hinter der früher sein eigenes Zimmer gewesen war. Er selbst war schon auf dem Weg nach rechts, wo eine weitere Tür ins elterliche Schlafzimmer führte. Von dort wiederum ging es weiter in Aliisas Zimmer, das quasi hinter der Küche lag und zwei Fenster zum Garten hatte.

Gustav wimmert, aber als Sixten die Tür zum Schlafzimmer geöffnet hatte und im Begriff war, zu Aliisas Zimmer zu gehen, heulte er auf und stürzte seinem Sohn nach, packte diesen an der Schulter und versuchte ihn umzureißen. Sixten machte sich erneut los und funkelte seinen Vater an. Dann riss er die Tür zu Aliisas Zimmer auf, das schlimmste befürchtend. Anders als erwartet, kämpfte der Vater nun nicht mehr. Er hockte mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Boden kniend, und heulte wie ein Schlosshund. So hatte Sixten ihn noch nie erlebt.

Perplex blickte er zwischen Aliisas säuberlich aufgeräumtem Mädchenzimmer, das Bett war gemacht und offensichtlich lag seine Schwester nicht darin, und seinem Vater hin und her. "Hast du sie tot geschlagen?" knurrte er zwischen knirschend zusammengepressten Zähnen hervor, trat zu seinem Vater und kniete sich vor diesen. Die Knöchel an seinen Händen traten weiß hervor und seine Sehnen waren angespannt. Ganz langsam atmete Sixten ein und aus. Er musste sich zwingen, die Wahrheit nicht aus seinem Vater herauszuprügeln.

"Was. Ist. Passiert!?" hakte er schließlich nach, als er hoffte, sich unter Kontrolle zu haben. Doch der Vater antwortete nach wie vor nicht. Sixten schüttelte ihn kräftig an den Schultern gepackt durch, so dass Gustavs Hinterkopf gegen die Wand schlug. "Sie ist fort." kam es von den zitternden, tränenbehangenen Lippen des Vaters. "Wie fort?" fragte Sixten und ließ den Alten los. Dieser zuckte mit den Schultern. "Na weg... keine Ahnung wohin." Sixten verengte die Augen. "Und das soll ich dir glauben? Klingt nach einer billigen Ausrede, nachdem du sie einmal zu fest geschlagen und ihre Leiche irgendwo verscharrt hast."

"Das w..." setzte Gustav an und Sixten schüttelte ihn erneut. "Dass du das nie wollen würdest, weiß ich auch, aber der Alkohol macht dich zu einem anderen Menschen! Also. Wo liegt sie? Sie verdient wenigstens ein anständiges Begräbnis!" Doch aus dem Vater war nichts brauchbares herauszubekommen. Dass Gustav nun nach seinen beiden Frauen und seinem kleinen Mädchen auch noch Aliisa verloren hatte, das Kind, dass er doch so liebte, betäubte ihn. Er bekam kaum mit, wie Sixten in Aliisas Zimmer Türen und Schränke öffnete und wieder schloss.

Nach einer Weile kam Sixten erneut aus der Tenne zurück und kniete sich erneut vor den Vater, weniger wütend, eher nachdenklich. "Also entweder hast du deine Sache im Suff verdammt gut gemacht, Vater, was ich kaum glauben mag, oder sie ist wirklich fortgelaufen. Ihr Bogen, ihre Fallen sind weg und deutlich mehr Kleidung, als sie an dem Abend angehabt haben kann. Dazu wird sie kaum zwei Paar Schuhe getragen haben." Er rieb sich das stoppelige Kinn und zog den Vater hoch und mit sich, durch Aliisas Zimmer, in dem es an der gegenüberliegenden Wand eine weitere Tür gab die in einen winzigen dunklen Flur führte, der die Küche mit dem Badezimmer verband.

Dort wusch er seinem Vater wortwörtlich den Kopf, brachte ihn anschließend in die Küche und setzte Kaffee auf, schlug ein paar Eier in die Pfanne. Während Gustav erstaunlich folgsam aß und trank, froh, dass jemand anderes das Heft in die Hand genommen hatte, kramte sein Sohn im Haus herum.

Schließlich hatte er zwei Rucksäcke gepackt, Proviant und Sachen zum Wechseln. Einen stellte er Gustav hin. Als dieser fragend schaute, immer noch betrunken natürlich, doch deutlich viel nüchterner, sagte Sixten schlicht "Wir gehen Aliisa suchen!".

Zweimal packte Sixten die Schnapsflaschen wieder aus Gustavs Rucksack aus, dann hatte er die Nase voll, brachte sie in die Waschküche, die sich gegenüber der Tür zum Wohnzimmer auf der rechten Seite der Küche anschloss und rechts hinten eine weitere Tür zum Stall, links eine Tür zum Garten aufwies, der sich um den ganzen rückwärtigen teil des Hofes herumzog. Dort schlug er die Flaschen in dem steinernen Waschbecken entzwei. "Nun ist Ruhe!"

Gustav versuchte erneut, ihn zu schlagen, aber ohne Erfolg. Kurze Zeit später sah man beide Männer durch das Dorf gehen, bei jedem Haus einen kurzen Schwatz halten und nach Aliisa zu fragen. Doch keiner hatte sie kürzlich gesehen.

So machten sie sich auf den Weg zum Nachbardorf, nachdem sich Sixten von Lilly verabschiedet hatte. Gut zwei Wochen zogen Sixten und Gustav von Dorf zu Dorf. Die Wege waren weit, die Gastfreundschaft groß. Doch nirgends hatte man etwas von Aliisa gehört oder gesehen. Sie schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein.

Dass sie sich das Leben genommen hätte, glaubte Sixten nicht. Dafür würde sie nicht so viel eingepackt haben. Sie musste einen Weg gefunden haben, ein deutlich größeres Stück fort zu kommen. Er war hin- und hergerissen. Es war gut, dass Gustav sie nun nicht mehr schlagen konnte. Aber er wollte gern Gewissheit haben, dass sie lebte und es ihr wohl erging.

Gustav tat die Reise mit Sixten gut. Viel Bewegung, viel Luft und ein Ziel. Etwas, das ihm wirklich lange gefehlt hatte im Leben, wobei er sich nun fragte, warum es nicht genug gewesen war, sich an Aliisa zu erfreuen und ihr eine schöne Kindheit zu verschaffen. Und kein Alkohol. Zunächst hinderte ihn Sixten, Abends etwas anzunehmen, dann hörte Gustav von sich aus auf zu trinken.

Beide kamen ernst, aber verändert in ihr Dorf zurück. Gustav erlitt zu Hause nochmal einen Rückfall, bis ihm klar wurde, dass er ganz allein war und ganz unten angekommen war. Niemand würde ihm da raushelfen, das musste er selbst tun. In der bittersten Stunde entdeckt er das arathische Rückgrad und eine Entschlossenheit in sich, die er nicht mehr bei sich vermutet hätte. Vielleicht lag es auch daran, dass ihm seine beiden Frauen erschienen waren und wenig schmeichelhafte Worte für ihn und sein Verhalten gefunden hatten.

Ob die Ahnen nun wirklich zu ihm gekommen waren, oder ob es ein Wahn in Suff und Fieber gewesen war, vermochte er nicht zu sagen. Aber danach trank er keinen Tropfen Alkohol mehr. Der Hof war bald wieder sauber und ordentlich und die Einnahmen aus Hof und Mühle steigerten sich so, dass er eine Magd und einen Knecht einstellen konnte. Sein größter Antrieb war aber die Vorstellung, dass Aliisa eines Tages zurückkommen würde. Dann würde sie Augen machen!

Allisas Jagdhütte 1[]

Aliisas Jagdhütte stand im Moment noch ausschließlich in der Phantasie des Mädchens oder der jungen Frau, die über einen Tisch gebeugt vor einer großen Karte der Baronie saß, welche sie aufmerksam und ausführlich betrachtete. Aliisa hatte sie bei Erkundungsgängen in der Feste Wolfenberg - einem großen Herrenhaus, am Wolkensee gelegen - entdeckt, in der sie seit zwei Nächten auch schlief, nachdem die Freifrau sie dazu eingeladen hatte. Und sie hatte schon Recht gehabt, es war viel angenehmer als im Zelt, besonders wenn Nachts der Regen prasselte und oder Wind die Baumkronen rauschend bog.

So hatte Aliisa am Vormittag ihre Sachen aus Kreuzlingen abgeholt, nachdem sie gestern nicht dazu gekommen war. Sie trockneten in der kleinen, gemütlichen Kammer vor sich hin, in der sie hier übernachten durfte. Sie selbst war auch noch leicht feucht, auf dem Rückweg hatte sie im Waldstück hinter Ober-Kreuzlingen ein Regenschauer überrascht. Das war nicht weiter schlimm, immerhin war ja Sommer, auch wenn die Jahreszeiten hier im Süden alle ein wenig verwaschen wirkten gegen die kalten Winter und die heißen Sommer in ihrer Heimat.

"Uldum" geisterte ihr durch den Kopf. Uldum war auf der Karte natürlich nicht zu sehen. Aliisa hatte auch so gar keine Vorstellung, wo das liegen mochte und halb hoffte sie, dass sie nicht dorthin mitreisen müsste, halb wünschte sie sich, die fremdartige, heiße, gefährliche Landschaft mit eigenen Augen zu sehen, diese... Kamele oder wie die Viecher hießen, und diese Katzenmenschen, von denen die Freifrau erzählt hatte. Kamele... dabei waren Pferde schon beängstigend genug.

Sie rief sich zur Ordnung. Es gab immerhin genug zu planen, zu überlegen, zu bedenken. Sie hatte so gar keine Vorstellung davon, wie ein Jagdgebiet, oder Jagdpacht... oder Pachtgebiet oder wie nun auch immer beschaffen sein könnte, müsste, sollte. Immerhin war von einem Oberaufseher oder so die Rede gewesen, der hatte davon sicher eine exakte Vorstellung. Und irgendwer musste das Land ja auch in Bereiche für die Jäger aufteilen. Vielleicht dieser Jagdaufseher, oder die Freileute selbst?

Im Gegensatz zu Uldum war der Tannengrund durchaus eingezeichnet und lag sogar dichter am Herrenhaus als Kreuzlingen. Weder das Torfmoor noch die Mückensümpfe - wo sie das erstere vorgezogen hätte - und auch nicht der Finsterwald machten einen netten Eindruck auf der Karte. Hätte sie sich zwischen den dreien der Karte nach entscheiden müssen, hätte sie wohl das Torfmoor gewählt. Es lag zwischen zwei Gebirgszügen, den Nebelbergen im Norden und dem Dunkelkamm im Süden. Außerdem waren ihr Moore viel sympathischer als Sümpfe. Wald gab es um das Moor herum ebenfalls. Allerdings auch einen Wolfsbau.

Doch nun hatte die Freifrau ihrem Gatten gegenüber plötzlich von einer Jagdhütte im Tannengrund gesprochen, da sie den Eindruck gewonnen habe, dass sich "Miss Aliisa", wie sie immer so feierlich genannt wurde, und Miss Cosenza gut zu verstehen schienen. Den Eindruck hatte Aliisa selbst auch.

Auch wenn sie die offensiv zum Ausdruck gebrachten partnerschaftlichen Vorlieben der Bienenpflegerin am Anfang ein wenig irritiert hatten. Gehört hatte sie von sowas natürlich schon, aber in ihrem Dorf und dem Nachbardorf waren eigentlich immer Weiblein und Männlein zusammen gewesen. Obwohl... Sie legte den Kopf schief. Vermutlich traf man sich da eher im Geheimen. Was wusste sie schon, die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie für sowas eh keinen Blick gehabt. Außerdem hatte sie ja zu Hause ihre ganz eigenen Sorgen gehabt.

Sie riss sich erneut zusammen. So würde das nichts werden, Konzentration! Offensichtlich gab es zwei Gewässer, den Schwalbenfluss und einen anderen, der in diesen in der Nähe einer "Alten Schmiede" mündete, bevor er unter der Straße, die zu irgendwelchen "Sümpfen des Elends" - dann wirklich lieber ein Torfmoor, echt jetzt! - führte, und dann gemeinsam weiter zum Wolkensee flossen.

Dies war die erste Landkarte, die sie abgesehen von einem kurzen Blick auf Mertens eher grobe Karte der Ländereien zwischen Sturmwind und dem Arathihochland, zu Gesicht bekam. Aber sie mochte sie. Gerade die plastischen Zeichnungen der Berge und Bäume gefielen ihr und sie konnte sich in Gedanken schon am Waldrand entlanggehen sehen.

Die eigentliche Arbeit, die vor ihr lag, machte ihr keine Sorgen. Sie hatte eher ein wenig Angst davor, irgendwas organisatorisches zu vergessen. Und generell bahnte sich da etwas an, das gravierende Auswirkungen auf ihr ganzes Leben haben würde. Das machte manchmal schon ein mulmiges Gefühl.

Alles in allem konnte sie sich aber glücklich schätzen. Vermutlich hatte die Freifrau sie ebenso sympathisch gefunden wie umgekehrt. Warum sonst sollte man ihr solche Chancen anbieten. So wenige Jäger schien es ja nun nicht zu geben, dass man händeringend einen jeden zu erhaschen versuchte.

Und nun sollte sie auch noch eine umfassende Ausbildung bei einem Privatlehrer machen, statt nur besser schreiben zu lernen! Manche der Worte, die die zu lernenden Fachgebiete umfassten, kannte Aliisa gar nicht. Da machte man einmal unbedacht den Mund auf und dann das! Sie grinste, denn schließlich war es ja auch äußerst schmeichelhaft, von der Freifrau einen wachen Verstand bescheinigt zu bekommen.

Ihre braunen Augen huschten weiter über die Karte, während ihre Gedanken eigener Wege gingen. Ihnen Einhalt zu gebieten, stand ihr eh nicht zu Gebote. So ließ sie sie schweifen. Es würde nicht schaden, die Ländereien der Baronie gut zu kennen und auch, was wo an diesen Tannengrund grenzen würde. Und wie würde ihr Jagdgebiet wohl aussehen? Nördlich vom Tannengrund den Grenzbereich zu den Nebelbergen umfassen? Oder vielleicht auch nach links und rechts daran entlang? Wie groß musste es wohl sein? Oder wie groß dufte sie es sein, damit sie den Pachtzins zahlen könne, ohne sich beim Jagen völlig zu verausgaben, neben dem ganzen Lernen? Und vielleicht noch dem Bogenbau?

Welche Tiere mochten hier leben? Luchs und Bär, Wolf und Fuchs vermutlich. Wobei diese Wölfe nicht geschossen werden durften. Und dann gab es da weiter links auf der Karte eine "Höhle der Gnolle". Die - wenn sie das von gestern Abend richtig im Kopf hatte - durften abgeschossen werden. Aber sollte man sie da an ihrem Wohnort stören? Was waren das überhaupt genau für Wesen? Hatten sie vielleicht auch eine gewisse raue Art der Zivilisation?

Darüber musste sie nochmal mit der Freifrau reden. Und die Dinge aufschreiben. Sie sah auf ihre rechte Hand und seufzte. So geschickt diese im Umgang mit dem Bogen oder dem Auslösemesser, den Fallen, beim Putzen von Gemüse und Schälen von Kartoffeln war, so unbeholfen fühlte sie sich mit einer Feder in der Hand an und kleckste und krakelte. Vermutlich müsste sie das üben. Sie würde um Pergament, Tinte und Feder bitten - und ein Schabemesser.

Es war beschämend. Alles musste sie leihen oder schlimmer noch, geschenkt bekommen. Aber so war es eben. Wäre sie zu Hause geblieben, wäre es anders, aber nein, darüber mochte sie gar nicht nachdenken. Sie war schon mit der einfachen Arbeit auf dem Hof in Elwynn glücklich gewesen.

Vielleicht war es an der Zeit, dem Schicksal zu trauen?


Aliisas Jagdhütte 2[]

Irgendwann mitten in der Nacht, zumindest war es noch dunkel, also musste es wohl, hoch im Sommer, wie es Anfang Juli war, noch vor drei Uhr morgens sein, schreckte Aliisa aus einem wirren Traum auf, in dem ganz viele Leute, darunter ein Haufen Gnolle, die den Boden schrubbten, in ihrer Jagdhütte werkelten, herumwirbelten und Aliisa völlig überforderten. Ella war da, Nette, die Freifrau brachte ein Bild an, Lina stand auf einer gewagten Leiterkonstruktion und hängte Vorhänge auf und Ben Bergmann werkelte draußen an irgendetwas herum. Von Ferne sah sie Lady Morgentau näher kommen, die sicher überprüfen wollte, ob Aliisa hier auch gut würde lernen können. Aliisa wurde mit tausend Fragen von noch diversen anderen Bewohnern der Baronie gleichzeitig bombardiert, ihre kleine Hütte war viel zu vollgestopft und Aliisa war völlig überfordert. Zumal ihr dabei auch noch ein Gnoll mit unter die Füßchen geschnallten Bürsten zwischen den Beinen durchflitzte. Wah!

Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Dunkel war es und still. Niemand, der Fragen an sie hatte, die sie noch gar nicht beantworten konnte. Sie schlug die verschwitzte Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und trat ans Fenster, von dem aus sie hinüber blickte: In etwa fünfzig Meter Entfernung lag sie im Dunkeln, ihre Jagdhütte! Gestern Abend hatte sie den Schlüssel übergeben bekommen - wenn auch wohl nicht offiziell, sondern nur von Lina. Was sie da wohl alles erleben würde?

Es gab ein Bett, einen Schrank, einen Tisch mit zwei Stühlen, oder war es einer gewesen? Und sie durfte Linas Küche hier im Haus und den Brunnen davor mitbenutzten, dessen sauberes Wasser Lina gelobt hatte. Beides hatte Aliisa gestern Abend zu Gesicht bekommen, die Küche war groß und reichlich ausgestattet. Aliisa würde für das Fleisch sorgen und durfte dafür alles benutzen, sofern sie es auch wieder abwaschen würde. Das war ja klar, natürlich würde sie die Sachen wieder abwaschen, die sie schmutzig machte.

Sie hatte nicht umsonst in ihrer Heimat den Haushalt seit Jahren geführt. Kurz gab ihr die Vorstellung einen Stich, wie es nun dort aussehen mochte, wo ihr Vater alleine dort hauste. Der war nun schon knapp 50, ein gesegnetes Alter. Vielleicht wäre es ihre Pflicht gewesen, dazubleiben und sich später um ihn zu kümmern. Sie seufzte. Immerhin wohnte ihr Bruder mit seiner Familie ganz in der Nähe.

Aliisas Schultern strafften sich. Sie hatte keine große Wahl gehabt, sie hatte einfach gehen müssen! Und diese Reisetruppe, von der sie gehört hatte, war der einzige Ausweg gewesen, der sie weit genug von ihrem Dorf fortgeführt hatte, um nicht zurückgeholt zu werden. Sie hatte ihn mit beiden Händen fest ergriffen, diesen Strohhalm, und hatte alles in allem sehr viel Glück gehabt. Aliisa öffnete das Fenster und lächelte ein wenig wehmütig, als sie an die Reise aus dem Arathi Hochland nach Sturmwind zurück dachte. Gleich zu Beginn hatte sie dabei Merten kennen gelernt, als sie einen Wagen gesucht hatte, auf dem sie ein paar Tage würde mitfahren dürfen, bevor sie wieder gesund genug gewesen wäre, um selbst zu laufen. Sie schüttelte den Kopf. Diese Gedanken wollte sie nun eigentlich auch nicht aufwärmen.

Vor ihr lag großartiges! Ein eigenes Heim, nette Leute, die sie zu mögen schienen, eine Adlige mit überraschend erfreulichen Ansichten. Eine Schule, mit vielen spannenden Dingen die es zu lernen gab. Dazu der Wald, die Jagdpacht! Den Wald zu Hause hatte sie am Ende wie ihre nicht vorhandene Westentasche gekannt. Es würde sicher spannend werden, das neue Jagdgebiet langsam für sich zu erobern. In seinen Rhythmus einzutauchen, seine "Sprache" zu lernen, die Tiere zu beobachten, die sie in Zukunft würde jagen dürfen.

Als es anfing zu regnen, schloss Aliisa das Fenster. Schon wieder regnete es. Dabei hatte am Nachmittag schon das Wasser des Wolkensees sehr hoch unter dem Steg gestanden. Sie hatte auch gehört, dass überall in der Gegend die Flüsse und Seen über die Ufer traten. Zum Glück lag Linas Haus im Tannengrund ein gutes Stück vom Schwalbenfluss entfernt. Im Gegensatz zum Namen des Ortes standen hier keine Tannen und abgesehen von den Bäumen um die beiden Häuser und die kleineren Schuppen herum schien die Gegend eher aus Wiesen und Weideland zu bestehen. Aber das würde sie später am Tag, wenn es hell wäre, sicher genauer sehen können. Vielleicht gab es ja doch Tannen, die sie im Dunkeln übersehen hatte?

Aliisa ging zurück zum Bett und schenkte sich ein Glas Melonensaft aus der bereitstehenden Karaffe ein. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Gastgeberin. Miss Cosenza, oder Lina, wie sie sie seit gestern Abend nennen durfte, war eine merkwürdige Frau. Oder vielleicht war auch 'bemerkenswert' das passendere Wort, Aliisa war sich nicht sicher. Vielleicht beides. Sie trug ihre Vorliebe für das gleiche Geschlecht wie auf einem Tablett vor sich her, vielleicht nach schlechten Erfahrungen, nachdem das nicht gleich bekannt gewesen war? Aliisa wusste es nicht. Und sie kokettierte mit ihrem Alter, obwohl sie viel viel jünger war als etwa Aliisas Vater. Vielleicht etwas älter als ihr Bruder. Und Merten war vermutlich auch in dem Alter gewesen, grübelte sie. So genau wusste sie das nicht.

Mit dem Alter war das eh so eine Sache. Auf dem Sonnenwendmarkt war ihr wieder aufgefallen, dass fast alle Burschen in ihrem eigenen Alter nicht zu gebrauchen waren. Entweder übertrieben sie alles scheußlich oder hingen wie ein Schluck Wasser in der Kurve herum. Einzig und allein unter diesen hatte ihr der Harfenspieler gefallen. Mit ihm hatte sie ein Weilchen geredet, doch bevor sie eine genauere Meinung über ihn hatte entwickeln können, war er gegangen. Vielleicht hatte sie ihm ja auch einfach nicht gefallen. Sowas kam vor. Ihre Gedanken kehrten zurück zu Miss Cosenza.

Diese war herzlich und großzügig. Lina hatte ihr, statt ihr für den Besuch in Dalaran ein Kleid zu leihen, gleich vier davon geschenkt, in die sie überraschender Weise hineingepasst hatte, wobei die Kleider mal besser, mal schlechter die kleinen Röllchen kaschierten. Aliisas Garderobenauswahl war davon gleich um viele hundert Prozent erhöht worden, wobei es fraglich war, zu welcher Gelegenheit sie wohl dieses eine, eigentlich nur aus einem dünnen, durchscheinenden Rock und Schmuckornamenten auf dem Oberkörper, sowie zwei kleineren Stoffteilchen für die Brüste bestehende 'Kleid' tragen könnte.

Und Lina hatte ihr vergewissert, dass sie gut aussähe und dass sie sich nichts anderes einreden lassen solle. Das tat gut. Manch Bursche im Dorf hatte sie gern gehänselt oder ihr freche Worte nachgerufen. Hier war ihr das noch nicht passiert und in Sturmwind, in dieser drangvollen Enge von abertausenden, lauter verschiedenen Leuten, auch nicht. Da kümmerte sich offenbar eh jeder nur um seinen Kram.

Ihre Gedanken kehrten zum Steg am Nachmittag zurück. Zuerst hatte sie den angelnden Worgen nur scheu von Ferne begrüßt. Ihr waren diese Menschen in Worgengestalt immer noch ein wenig unheimlich. Doch als sich herausstellte, dass der Archäologe in dem Pelz steckte, den sie schon auf der Lehnsversammlung kennen gelernt hatte, hatten sie sich gut unterhalten. Später war diese elfische Lady Morgentau dazugekommen und hatte berichtet, dass eine richtige Schule geplant wäre und dass ihr dafür als Schülerin Aliisa ans Herz gelegt worden sei, die ihr als - wie war das noch gewesen? - begabt und intellektuell oder so? - geschildert worden wäre. Das hatte auch noch nie jemand über sie gesagt. Sixten hatte höchstens mal gemeint, dass sie sich 'heute nicht ganz so blöd anstellen würde wie sonst', wenn ihr etwas gelungen war.

Sie schmunzelte. Vielleicht war das auch eine Mentalitätsfrage? Die Leute in ihrer Heimat neigten neben Sturköpfigkeit und Mundfäule auch dazu, mit Komplimenten zu geizen. Hoffentlich war all diese Freundlichkeit hier auch wirklich ernst gemeint. Als ihre zukünftige elfische Lehrerin wieder gegangen war - recht zufrieden, Aliisas Eindruck nach - hatte sie sich mit Konogar - welcher ihr das 'Du' angeboten hatte - über Bruchzahlen unterhalten.

Der Worgen ritzte sie behutsam in die weiche, obere Schicht der Bohlen des Stegs. Anfangs schien Aliisa das ganze Konzept unnötig kompliziert und umständlich, seltsam und kaum begreiflich. Doch dann wurde ihr klar, dass es keine unnötig schwierige Erfindung war, sondern nur eine Eigenschaft der Welt, der Dinge, der halben Brote und der Apfelviertel, der Tortenstücke und der gedrittelten Fenster und so vieler anderer Dinge. Es änderte ihre Sicht auf die Welt, ihre Wahrnehmung!

Es war dennoch kompliziert, und wie sie mit diesen seltsamen Zahlen, in denen eine Zahl über einer anderen mit einem Strich dazwischen stand, tatsächlich rechnen sollte, wusste sie bis auf einzelne Fälle noch nicht. Ihr waren schon Regeln dazu durch den Kopf gespukt, aber sicher unvollständig und nicht akkurat genug. Der Versuch, sie in Worte zu fassen, hatte zu einem ziemlichen Durcheinander geführt.

Und von Gleichungen hatte Herr Luchszam gesprochen. Und auch gesagt, wozu sie gut seien. Um Waldflächen zu berechnen etwa. Was auch immer Gleichungen sein mochten, Aliisa würde sie gebrauchen können, soviel war schon klar.

Ebenso stand es um die Etikette, die von der Elfendame unterrichtet würde. Und natürlich um die Verbesserung ihrer Schießkünste mit größeren Bögen, die eine andere Elfendame vornehmen würde. Aliisa lachte leise. Wer hätte gedacht, plötzlich von Elfen unterrichtet zu werden? Früher hatte sie die für Fabelwesen gehalten, genau wie Drachen, Feen und dergleichen. Angeblich sollte es aber auch Drachen wirklich geben. Sie hatte in Sturmwind den Finger in eine Kerbe in einem Stein legen können, der angeblich von der Klaue eines Drachen stammen sollte. Na wer weiß... vielleicht hatte man ihr da aber auch einen Bären aufgebunden.

Auch als Aliisa sich wieder unter die Decke gekuschelt hatte, kreisten ihre Gedanken noch eine Weile aufgeregt von all dem Neuen vor sich hin, bevor sie in das Reich des Schlafes und der Träume sank.


Allisas Jagdhütte 3[]

Der Stuhl knarzte leicht und die unebene Oberfläche des groben Tisches in der Jagdhütte hatte Aliisa durch ein kleines Brett, das sie als Schreibunterlage nutzte, ausgeglichen. Erneut trug sie, wie jeden Tag, an dem sie in den Wald ging, auf verschiedene Zettel in Listen ein, was ihr aufgefallen war, welche Tiere sie gesehen hatte, welche in Fallen gegangen waren und welche sie geschossen hatte.

Dem anfänglichen Fuchs als erstes hier erlegtes Beutetier waren bisher noch verschiedentliche, meist kleinere Tiere gefolgt. Bisher hatte sie die Felle wie auch das überschüssige Fleisch immer zum Herrenhaus gebracht. Sie wusste, dass sie dabei völlig frei war, aber bislang war es so am einfachsten.

Vom Gerben verstand sie nichts und so wie es bei der Gerberhütte roch, hatte sie auch nicht vor, dies zu ändern. Sie ließ sich ja leicht für etwas begeistern, aber bei Mücken und solch unangenehm riechenden Angelegenheiten wie der Gerberei war die Neugier doch arg begrenzt.

Aliisa notierte sich auch Dinge über den Wald, wie Standorte langsam reif werdender Brombeergebüsche, Stellen, wo sie später im Jahr nach Blaubeeren schauen wollte, angefressene Rinden von Jungbäumen und was ihr noch so auffiel. Auf einem eigenen Blatt hatte sie grob eine Skizze über das Waldstück mit seinen Wildwechseln, Steinformationen, Bachläufen und so weiter angelegt. Je dichter man an die Flanken des Nebelgebirges kam, desto unwirtlicher wurde der Wald.

Da kam es ihr zu Gute, dass sie in den Bergen aufgewachsen war, die Bergflanken stellten keine Herausforderung für sie da, mit sicherem Tritt bewegte sie sich auch im schroffen Terrain, das Klettern und Bergsteigen war ihr alles andere als fremd. Sicher nicht so gewandt wie ein Steinbock, aber doch geschickt genug, um nicht zu schaden zu kommen. Apropos Steinbock... sie hatte eine Familie dieser geschickten Kletterer gesehen. Da musste sie bei Gelegenheit fragen, ob auch solche Tiere zu ihrer Beute gehören würden. Sie würde eh nochmal mit dem Jagdaufseher sprechen müssen.

Unerfreulicher Weise schien ihr Blut den heimischen Zecken ebenso gut zu munden wie den Mücken. Erfreulicher Weise gab es von letzteren weniger, erstere musste sie nach ihren Streifzügen durch Wald und Flur immer mal wieder unter den Armen oder im Übergang von Bein zu Rumpf herauspulen. Lästige kleine Blutsauger, sie sich offenbar immer warme Stellen mit weicher Haut suchten, um sie zu piesacken.

Aliisa lächelte. Was machte es schon? Sie liebte den Wald. Sie schätzte die Menschen hier, ihre Jagdhütte war klein, aber ihre eigene, und es war ein wirklich erhabenes Gefühl, alleine zu wohnen, ohne dass plötzlich ihr Vater auftauchen und sie mit Vorwürfen überschütten konnte. Sie seufzte. Sie vermisste Vater und Bruder. Und sicher sorgten sich die beiden um Aliisa. Aber es war der richtige, der einzig mögliche Weg gewesen, zu fliehen. Fortzulaufen. Irgendwann würde sie ihr Heimat bereisen und ihnen berichten, was aus ihr geworden war. Aber ersteinmal musste sie ja selbst zu dem werden, über das sie dann würde berichten können.

Hier hatte sie es gut, wirklich gut. Demnächst würde die Gräfin Morgentau sie vermessen. Aliisa konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass die Elfe ausgerechnet das mollige Bergmädel zu ihrer "Muse der Kollektion" erwählt hatte. Aber die Gräfin war nicht die einzige, die ihre Figur zu mögen schien.

Aber selbstverständlich war sowas nur Frauen aufgefallen... Männer gab es eh wenige hier, und wenn waren sie in der Regel vergeben, da machte man sicher keine Sprüche über das Aussehen anderer Weiber, wenn man nicht Bekanntschaft mit dem heimischen Nudelholz machen wollte.

Sie war immer noch ein wenig überrascht, dass nicht nur ihre Nachbarin und liebe Freundin Lina Frauen bevorzugte, sondern auch ihre zukünftige Bogenbaumeisterin Miss Courtney Piers mit einer Frau zusammen war, wie sie letztens erfahren hatte. Und wie hatte sie das noch gesagt? Sie mochte Männer und Frauen oder so ähnlich. Sowas gab es also auch! Die Welt hier im Süden war schon wirklich kompliziert! Andererseits war es kein Wunder, dass bei dem hohen Frauenüberschuss nach den unzähligen Kriegen und Auseinandersetzungen, die ihre Welt ertragen musste, Frauen zueinander fanden.

Ihre Gedanken wanderten weiter. Offenbar war die Gnade der Freiherren nicht nur ihr selbst zuteil geworden, es sammelten sich immer wieder Menschen - und andere Wesen - hier, denen das adelige Paar eine Chance, eine Zukunft, ein Leben bot. Wie ihr selbst. Seit kurzem war ein anderes junges Mädel hier, eine Methilde. Aliisa weigerte sich - hoffentlich unauffällig - diese Missy zu nennen, ein schrecklicher Spitzname! Viele Worte hatten sie noch nicht gewechselt, aber diese Methilde sah auch aus, als käme sie von einem Bauernhof, wie Aliisa selbt. Na das würde sich sicher noch finden.

Nun, nicht, dass sie kein Leben gehabt hätte, aber hier lebte es sich viel besser, als den halben Tag in Stall und auf den Feldern zu asten, und dann erst in den Wald zu gehen, wie es im vergangenen Jahr in Elwynn der Fall gewesen war. Dazu würde sie hier lernen, in dieser neuen Schule. Aliisa war wirklich schon gespannt. Dazu würde sie mehr über das Bogenbauen lernen, den Umgang mit schwereren Bögen und und und... das war alles so aufregend. Dazu noch diese Sache mit dem "reichen Damen Kleider vorführen". Hoffentlich würde sie das nicht verpatzen!

Aliisa benetzte die ausgetrocknete Feder - wo waren ihre Gedanken wieder hingeschweift? - und schrieb an ihren Listen weiter. Gleich würde sie die Felle und sich selbst waschen und dann die Ausbeute zum Gutshaus bringen. Das Fleisch für den Eigenbedarf hing schon in der Speisekammer auf Haken.


Waldgedanken[]

Aliisa saß still auf einer Astgabel. Die Beine baumelten links und rechts herunter, im Rücken den festen, lebendigen Stamm. Den Köcher hatte sie am Ast vor sich befestigt, den Bogen samt einem Pfeil locker, aber bereit in der Hand.

Sie horchte und schaute. Doch die Gedanken waren nicht anzuhalten. Sich in Arbeit zu stürzen, sei ein gutes Mittel, sich abzulenken, das hatte Lina gestern sogar noch bestätigt, als sie ihr von ihrem Vater erzählt hatte, von den Schicksalsschlägen, die ihre Familie hinzunehmen hatte. Unbedeutend vor den Geschehnissen der Welt, doch verheerend für das Wohl der Magnussons, für eine kleine Familie hoch oben in den Bergen Arathors. Sich allerdings in die Jagd zu 'stürzen', brachte unzählige ruhige Zeiten mit sich, in denen die Gedanken frei schweifen konnten.

Doch nicht um ihre Familiengeschichte drehten sich ihre Gedanken, auch wenn es sie aufgewühlt hatte, vom Tod ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Lykke zu erzählen. Es hatte Aliisa überrascht, wie sehr sie beim Erzählen von diesem alten, tiefen Schmerz gegen die Tränen hatte ankämpfen müssen. Vermutlich würde sie sich immer wieder einmal damit beschäftigen müssen, doch nun gerade war ihre Aufgewühltheit anderer Natur, auch wenn sich alles miteinander vermischen mochte.

Aliisas Kopf ruckte ein wenig zur Seite und ihr ruhender Leib nahm Spannung an. Doch was da vom Feld in den nahen Waldrand eintauchte, war ein noch mit verwaschenen weißen Flecken auf rötlicher Fellfarbe gezeichnetes Rehkitz. Aliisa ließ den Bogen wieder sinken. Auch die etwas später folgende Ricke, von der sie annahm, dass es sich wohl um die Mutter handeln würde, ließ Aliisa in Ruhe. Die beiden Tiefe bemerkten die Jägerin auf dem Baum nicht, immerhin wehte der Wind auch vom Waldrand her.

So blieb Aliisa ruhig sitzen, während die beiden Rehe tiefer im Wald verschwanden. Es würde sich schon etwas zeigen, das sie auch schießen könnte, wenn sie nur geduldig warten würde. So wanderten ihre Gedanken erneut zum gestrigen Abend zurück. Zunächst hatte sie die Gräfin und Hochelfe Ludmila mit ihrer Tochter Ella im Gespräch angetroffen, in dem es um recht intime Dinge ging, von denen Aliisa nunmal einen Satz aufgeschnappt hatte. Die Gräfin bat die errötete Jagdpächterin dann aber einfach dazu.

Die Gelegenheit des doch vertraulicheren Gesprächs zu dritt nutzend - auch wenn das anfängliche Thema sofort beendet war - fragte Aliisa die Gräfin später, was es mit der sich hier im Süden häufenden Liebe zwischen Frauen auf sich habe, woraufhin sich Ella umgehend ins Haus verkrümelte. Natürlich musste sich just in dem Augenblick, als die Elfe mit "Uh, knifflige Frage." eine lange Antwort einleitete, Lina dazugesellen. Aliisa wäre fast im Boden versunken.

Aber die lange Ausführung zur gleichgeschlechtlichen Liebe, die in jedem Volk vorhanden und in den Augen der Elfe normal sei, auch wenn sie gerade bei den Menschen als obszön erachtet und mit Abscheu betrachtet würde, war recht erhellend. Vielleicht gab es das zu Hause im Hochland sogar auch. Nur offen hatte sie soetwas nie gesehen. Bei dem Gespräch erfuhr sie auch, warum Ella sich bei dem Thema verzogen hatte. Diese meinte, als sie zurückkam und Aliisa sich bei ihr entschuldigte, dass das nichts machen würde. Sie würde zu Missy stehen. Da war er wieder, dieser Name. Methilda war doch so viel schöner als Missy! Na gut, das ging sie nichts an. Aber interessant, dass die beiden...

Die Runde vor dem Gutshaus war dann mit der Zeit immer weiter angewachsen, um die Freifrau etwa oder um Konogar - unvermeidlicher Weise in der felligen Form. Das Gespräch war interessant, teilweise zweigleisig über Gesteinsarten auf der einen Seite und die Untaten einer Kultistin auf der anderen. Doch als sich Lina zu einem Spaziergang erhob, fragte Aliisa kurzentschlossen, ob sie sie begleiten könne.

Obwohl die beiden Frauen Nachbarinnen waren, gab es im von vieler Arbeit geprägten Tagesablauf nur selten die Gelegenheit, sich einmal in Ruhe zu unterhalten. Und Aliisa hatte das Bedürfnis, nach all dem, was sie in Dalaran über Lina erfahren hatte, nun auch einmal von sich zu erzählen, auch wenn es ihr schwer fiel. Es war peinlich. Es tat weh, daran zu rühren. Und es könnte die Freundin verschrecken. Dennoch gehörte es zu Aliisa und wenn .. ja weiter als dieses wenn dachte sie gar nicht. Lina musste sie einfach besser kennenlernen.

Doch als sie sich auf einen Felsen mit Blick auf den Wolkensee gesetzt hatten, eröffnete Lina Aliisa, dass diese bei Eleona - das war der Vorname der Freifrau - bestimmt einen guten Mann finden würde, wenn Aliisa nur etwas warten und sich nicht gleich dem ersten Blender an den Hals werfen würde.

Als Aliisa fragte, ob sie von sich erzählen solle, hatte die Bienenkönigen gemeint, sie wolle wissen wie Aliisas Fingernagel im Mondlicht glänzt, wie ihr Atem nach einem Glas Met duftet und sonst auch alles. Aliisa sah auf ihre zweckmäßig kurz gefeilten Fingernägel der Hand, die den Bogen umfasste, herunter und schmunzelte. Dazu war es allerdings nicht gekommen. Weder hatte der Mond geschienen, noch hatte es Met gegeben, geschweige denn, dass Aliisa davon getrunken hätte.

Also hatte Aliisa angefangen zu erzählen: Von ihrem alten Vater, seinen beiden Ehefrauen, die er beide verloren hatte, eine im Kindbett, die andere an einen harmlosen Kratzer, der sich entzündet hatte. Von der Arbeit, in die der Vater sich gestürzt hatte, hauptsächlich in die neue Wassermühle. Und davon, wie ihre Schwester ertrunken war. Ihr kleiner Leib hatte das Mühlrad blockiert und ihr Vater hatte ihn von dort bergen müssen.

Wie das Leben ihrer Familie danach vollends auseinander gebrochen war, der Vater, der nun nicht mehr in die Arbeit flüchtete, sondern in die lockenden, betäubenden Arme des Alkohols. Von den Beschimpfungen, den Schlägen. Aber auch davon, wie ihr Bruder Sixten sie mit in den Wald genommen hatte und ihr ihren ersten Bogen in die Hand gedrückt hatte. Aliisa lächelte leicht und schrak etwas zusammen, als ein Specht schimpfend abdrehte, der sie offenbar auf dem anvisierten Baum entdeckt hatte, obwohl sie fast so hübsch braun und grün war, wie das Federkleid des starkschnabligen Baumklopfers.

Es war schwer gewesen, davon zu sprechen. So ganz ausführlich wie gestern hatte sie es nicht mal Merten erzählt, eigentlich noch niemandem, zu Hause wussten eh alle Bescheid. Auch nicht den Bauersleuten, deren Leben sie das letzte Jahr geteilt hatte. Falsches Mitleid konnte sie nämlich nicht gebrauchen. Aber sie hatte sich in Lina nicht getäuscht. Mitfühlend war sie gewesen. Tröstend. Aber Lina war nicht mit diesem in Sensationsgier changierende Mitleid angekommen.

Früh war sie erwachsen gewesen. Das hatte Lina gesagt. Und das stimmte. Mit neun Jahren hatte sie angefangen, zu kochen, den verwahrlosten Haushalt zu übernehmen. Und mit ihrem Bruder das Fleisch heranzuschaffen.

Eine Bemerkung von Lina hatte sie verschreckt: "Nein, dazu war ich viel zu jung, 16 Jahre." hatte Lina zu einer Frage geantwortet. Später mal, am Ende des Gesprächs, hatte Lina gesagt "du sollst mich nicht anlügen müssen". Aliisa schluckte. Wusste Lina überhaupt, wie alt sie war? Nun, belügen würde sie sie nicht. Außer darum, wohin der Nachtisch verschwunden war, wie Lina ihr erklärte, dass sie das dürfe. Aliisa grinste. Schnell wurde sie wieder ernst.

Das war schon alles seltsam. Dieses Gefühlkuddelmuddel. Das Fremde. Die Unsicherheit. Der Reiz. Die Angst um die Freundschaft. Die Neugier. Das klopfende Herz. Ob sie sich nur nicht verliebte, weil Merten sie so maßlos enttäuscht hatte? Oder war sie verliebt, und wollte es nicht wahrhaben? Sie tat einen langen Atemzug.

Und dann hatte Lina sie geküsst. Ein vorsichtiger, fragender, tastender, kostender, neugieriger Kuss zunächst. Und anstatt zurückzuzucken, hatte sie den Kuss einfach erwidert! Diesen Kuss, der sich über Stunden hinzuziehen schien und ihr Herz so aufgeregt pochen ließ, dass sie schon Angst hatte, ihre Brust würde zerspringen. Vermutlich war es nur kurz gewesen, doch angefühlt hatte es sich wie... die Zeit hatte sich gedehnt und ihren Kopf und ihr Herz aufgewühlt zurück gelassen.

Lina war wirklich interessiert an ihr. Warum auch immer. Sie war nicht nur hinter dem einen her - wie auch immer das bei zwei Frauen auch funktionieren sollte, darüber wollte sie lieber im Moment nicht nachdenken. Aber welch Unterschied zu Merten! Lina hatte auch nichts dagegen gehabt, zu den anderen zurück zu gehen, im Gegenteil schien ihr selbst ebenfalls danach zu sein. Sie war nicht enttäuscht, Merten hätte eine solche Situation sicher gleich auszunutzen versucht. Und Abends zurück im Tannengrund hatten beide artig in ihren eigenen Betten gelegen.

Aliisa lächelte. Sie sollte aufhören, die Merten und Lina zu vergleichen. Allerdings stellte dieser untreue Weiberheld leider ihre einzige Erfahrung in Dingen dar, die sie für eine Beziehung gehalten hatte.

Was sollte daraus nur werden? Was würden die Leute denken? Würde die Freifrau enttäuscht sein? Würde es Anfeindungen geben? Und wäre das gut, dass sich hier Frauenpärchen so häufen? Ihr wurde das Herz schwer und sie schüttelte die Gedanken ab, konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Auf den Wald, seinen Duft. Auf das Wildschwein, das da unten gemütlich des Weges kam. Moment mal, Wildschwein? Mit einem mal war Aliisa so richtig im Hier und Jetzt. Ihr standen die Härchen auf den Armen zu Berge, das Herz schlug wie wild und sie meinte, das Tier müsse sie schon allein vom wilden Rauschen ihres Blutes hören.

Das war die Gelegenheit! Hier oben war sie vor der Wut des Schweines sicher, sollte sie nicht treffen. Sollte sie es wagen? Welch Prestige, wenn sie Erfolg hätte! Aber hieß es nicht, dass man diesen gefährlichen Gegnern mit Sauspießen zu Leibe rücken solle? Es war zwar kein ausgewachsener Eber, sondern wohl noch ein erst ein oder zwei Jahre altes Jungtier, aber... nunja. Aug in Aug wäre sie lieber davongelaufen. Langsam hob sie den Bogen. Die Aufgeregtheit verebbte. Aliisa saß nun still wie eine in Holz geschnitzte Statue einer - molligen - Jagdgöttin auf dem Baum. Da war es wieder, dieses ganz besondere Jagdgefühl, das Sixten ihr über die vielen Jahre hinweg versucht hatte beizubringen und das sie auf der Brücke von Kreuzlingen den Strohscheiben gegenüber nicht hatte abrufen können.

Hier, allein im Wald, in ihrem Element, war das etwas ganz anderes. Langsam spannte sie den Bogen und wartete auf den richtigen Moment, während das Wildschwein gemütlich trottend immer näher kam. In diesem Augenblick gab es nur noch das Schwein und sie selbst. Die Sehne des Bogens sang leise, während Aliisa mit dem Pfeil mitflog. Die Zeit schien dabei langsamer zu vergehen, und doch hatte ihre Hand schon einen neuen Pfeil aus dem Köcher gezogen. Die vorjährige Bache - als solche stellte sie sich später heraus - quiekte entsetzt und machte einen Satz nach vorn. Der zweite Pfeil flog ihr hinterher, strich harmlos durch die Borsten auf dem Rücken und blieb im Stamm eines Schößlings auf der anderen Seite des Wildwechsels stecken, als Aliisa schon auf dem Boden landete.

Der Köcher baumelte noch oben an dem Ast, aber sie hatte zwei Pfeile schussbereit in den Händen und näherte sich vorsichtig dem fünf Meter weiter zusammengebrochenen Tier. Nachdem sie es eine Weile argwöhnisch umkreist und schließlich mit einem Stock angestupst hatte, wurde ihr Grinsen immer breiter. Im Gegensatz zu ihrem zweiten Schuss war der erste ein Blattschuss gewesen, hinter der schweinischen Schulter ragte der Schaft aus dem Fleisch, die Bache war nach ihrem Sprung auf die entgegengesetzte Seite gekippt und eindeutig tot.

Der Rückweg zur Jagdhütte wurde Aliisa furchtbar lang. Köcher und Bogen auf dem Rücken, das verflixt schwere Biest - selbst nach dem Ausweiden war es noch sauschwer, im wahrsten Sinne des Wortes - schleifte sie auf einer aus zwei langen und mehreren kürzeren Ästen und klebrigen Ranken improvisierten Rutsche das Biest hinter sich her.

Nach der Lehensversammlung[]

Aliisa saß vor dem Gutshaus auf einer Bank. Die Sonne schien, es versprach ein schöner Tag zu werden, und doch war es alles andere als gut. Die öffentliche Lehensversammlung gestern war turbulent und äußerst spannend gewesen. Davor schon hatte sie gehört, was erst am Ende der Sitzung angesprochen worden war: Die Untaten im Finsterhain und Mückensumpf, verschwundene Kinder, ein verletzter Leutnant Avery, eine Nette mit Ohrwurm.

Auch zu einem offenen Zerwürfnis zwischen ihrer Ausbilderin in spe, Miss Courtney Piers, und der geschätzten Hochelfe, zukünftiger Lehrerin und Schneiderin Gräfin Ludmilla Morgentau, zu deren Kollektion ausgerechnet Aliisa die Muse sein sollte, waren recht lautstark und wenig der Etikette folgend - so viel war sogar Aliisa klar - aneinander geraten. Am Ende war Miss Piers mit den Worten "Macht euren Scheiß doch alleine!" - oder so ähnlich - abgerauscht.

Ging da die Ausbildung im Bogenbau dahin, bevor der Lehrvertrag überhaupt unterschrieben worden war? Aber nicht hauptsächlich dies machte Aliisa zu schaffen. Die Berichte von Leutnant Avery und Lady Morgentau über die seltsame Elfe und deren Wirken im Mückensumpf waren schon schlimm genug gewesen. Doch dann hatte sie plötzlich, als eigentlich schon alles so gut wie vorbei gewesen war, wie ein Flüstern neben ihrem rechten Ohr, obwohl dort keiner gewesen war, diesen elenden Kinderreim vernommen:

   "Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, 
   es hat vor lauter Purpur ein Mäntlein um,
   was da steht im Wald allein, mit dem purpurn Mäntelein.
   Mit dem purpurrotem Mäntelein"

Der Vers wiederholte sich wieder und wieder, wobei die Stimme immer lauter und kreischender wurde. Aliisa hatte sich einen Finger in das Ohr gesteckt, doch das hatte den Reim keineswegs verstummen lassen. Auch nicht, als sie sich später beide Handballen auf die Ohrmuscheln gepresst hatte. Am Ende war es so penetrant, wie über eine Tafel gezogene Fingernägel und am zum Schluss hatte die garstige Frauenstimme kreischend gelacht, dann war es mit einem Mal vorbei gewesen.

Nette hatte einen Verdacht geäußert, der Aliisa sehr plausibel vorkam: Verschwunden waren in den Dörfern nur die Kinder, gehört hatten den Reim auf Nettes und Leutnant Averys Expedition nur die drei Leute, die unter 25 gewesen waren, da lag es nahe zu vermuten, dass der Zauber nur auf junge Menschen wirken würde und Erwachsene davon gar nichts mitbekommen. Nette hatte sie gefragt, ob sie den Drang gespürt hatte, wegzulaufen. Das stimmte. Sie hatte es nicht getan, aber der Drang war dagewesen. So hatte es Nette auch berichtet. Sie hatte gemeint, in ihrem Alter würde man sich vom Verstand her dagegen sperren, aber Kinder würden einfach folgen. Das konnte wirklich gut sein. Die armen Kinder...

Aliisa seufzte und wartete weiter auf die Gräfin, die versprochen hatte, sie zu untersuchen, wie auch die ganzen Leute, die mit Leutnant Avery unterwegs gewesen waren. Sie hatte unruhig geschlafen, auf einer engen Pritsche im Gutshaus, in Linas Armen, die die aufgewühlte junge Frau nicht hatte alleine lassen wollen, wofür ihr Aliisa auch sehr dankbar war.

Ihre Gedanken kehrten zu Nette zurück. Die Knappin konnte manchmal so abweisend und desinteressiert wirken, dass Aliisa es schon für Hochmut und Dünkel hatte halten wollen. Und dann wieder war sie ganz zugewandt und freundlich. Sie nahm sich vor, die vermutlich etwa gleichaltrige nicht in eine Schublade zu stecken. Hatte Lina nicht auch gesagt, wie sehr sie es hasste, wenn die Leute das mit ihr taten?

Das Alter-Thema war ihr sehr unangenehm. Zum Glück hatte Lina noch nie wirklich nachgefragt, wie als Aliisa war, doch anfangs hatte sie sie ganz offenbar für zu jung gehalten. Ob sie ahnte, dass Aliisa im kommenden Monat erst sechzehn werden würde? Sie hatte die Lüge Merten gegenüber beibehalten, hier im Rotkamm hatte noch niemand genau nachgefragt, was ihr nur Recht war, bis Nette gestern gefragt hatte, wie als Aliisa sei. Sie hatte sich bei der Frage herausgewunden mit "unter 25". Das war natürlich nicht gelogen, aber... hoffentlich würde das nicht noch Probleme machen. Sie wollte auch weiterhin als Erwachsene behandelt werden.

Und ob wohl morgen die Taverne der Nebelfüchse offen haben würde? Diese Sorgen und Gedanken vermochten sie eine Weile von ihren eigenen Ängsten, ob etwas von dieser Nekromantin, oder was sie auch immer sein mochte, an ihr zurückgeblieben war, abzulenken.

Gestern um diese Zeit war sie noch glücklich und ahnungslos gewesen, so fühlte es sich an. Das Böse der Welt schien fast so weit weg gewesen zu sein, wie zuhause in ihrem Bergdorf. Doch nun hatte es sie eingeholt. Sie hatte es selbst zu spüren bekommen!

Sobald die Untersuchung abgeschlossen war, würde sie sich an das Anfertigen von mehr Pfeilen, einem zweiten Köcher, und dann an den nächsten, größeren Bogen machen, völlig egal, dass das ein Projekt von vielen Wochen sein würde. Sie wollte so gut vorbereitet sein, wie es nur ging, falls das Übel des Mückensumpfes oder irgendein anderes sich erneut in ihre Nähe wagen würde.


Schlechte Träume[]

Aliisa erwachte schweißnass. Es war noch dunkel draußen, die sommerlich dünne Bettdecke hatte sich wie so manches Mal des nachts komplett um sie herumgewickelt, verkrumpelt und verschlungen. Mit ein wenig Aufwand befreite sie sich von der Würgeschlangendecke und trat ans Fenster, Barfuß, aber im langen Nachthemd.

Zum Glück hörte sie weder diesen verflixten Kinderreim mit dem Männlein und seinem purpurrotem Mäntelein, noch sah sie draußen irgendwelche untoten oder noch schlimmeren Gestalten in der Dunkelheit umherwanken. Nach den letzten Tagen war sie noch viel froher, dass sie keine Jagdpacht im Mückensumpf hatte annehmen müssen, sondern im Tannengrund gelandet war.

Doch nicht davon hatte ihr Albtraum gehandelt. Sie war ins Bodenlose gefallen, gefallen und gefallen. In Schwärze und Hoffnungslosigkeit. Ihr Herz klopfte immer noch schneller als normal. Das war auch kein Wunder, nach dem gestrigen Tag, denn als sie aufgeflogen war, hatte sie für einen Moment gedacht, sie müsse fortgehen, zurück auf den Hof in Elwynn oder sonstwo hin. Sie hatte zwar niemanden bewusst belogen - niemanden hier im Rotkamm zumindest, wie sie sich errötend eingestehen musste - aber doch wohl aufgrund ihrer Art einen falschen Eindruck erweckt.

Oder eben doch nicht falsch? Ihr schwirrte der Kopf und sie öffnete vorsichtig das Fenster, um die hochsommerliche Nachtluft einzulassen. Sie war auch noch selbst Schuld gewesen, hatte sie doch Nettes plausible Vermutung, wer diesen grässlichen Kinderreim hören konnte und wer nicht - eben junge Menschen und Kinder - selbst der Freifrau gegenüber erwähnt, weil sie das für wichtig gehalten hatte.

Während die Freifrau mit einem Wurfmesser nach ihr geworfen hatte - na gut, es war zitternd im Tisch vor Aliisa gelandet, offenbar konnte die Freifrau damit umgehen, erschreckend war es dennoch gewesen - hatte Nette dann von ihrer Theorie erzählen müssen:

"Ne Theorie zur Nekromantin wegen dem Singelsang. Dass die Kinder unter dem Ohrwurm leiden. Es fiel auf, dass nur die jungen Milizen -drei- alle in meinem Alter diese Stimme wirklich hörten, aber wir haben sie rumgeträllert eben.. also haben andere sie auch mitbekommen. Kinder folgen dem bestimmt einfach. Erwachsene hörten sie gar nicht. War nur ne dumme Theorie."

Auf Nachfrage der Freifrau - "Alle jungen Milizen haben sie gehört?" - erzählte Nette weiter: "Wir waren nur drei jüngere Leute... Jake war 15 und Andy war 19. Nur wir drei. Aber Andy hat die Schnauze nicht gehalten und es nur noch geträllert... Wie wir auch." Die Freifrau hatte weiter gefragt, wie alt der Jüngste gewesen war, der die Melodie nicht gehört hatte.

Nette, stocksauer über den Messerwurf, meinte "Was weiß denn ich!? Die gesamten verdammten Kinder haben sie laut Alex auch gesungen. Was weiß ich wie alt die warn." Die Freifrau hatte weiter gefragt "Ja.. aber ab welchem Alter haben sie sie nicht mehr gehört? Du sagtest, bis 19 haben sie alle gehört?" Nette hatte gemeint "Ja... wir drei.... Wie alt Aliisa ist weiß ich nich mehr, aber der nächstjüngste wär 26 gewesen.." - "Und der hat sie gehört? Oder nicht?" - "Ne der nicht und wir drei dies gehört habn auch nicht gleichzeitig."

Und damit hatte das Unglück seinen Lauf genommen. Die Augen der Freifrau hatten sich auf Aliisa gerichtet. Ihr war das Herz fast stehen geblieben, als sie fragte: "Wie alt seid Ihr, Aliisa?" und sie dabei gespannt anschaute. Aliisa rang kurz mit sich. Das würde jetzt vermutlich schlimm werden. Wegen Lina. Wegen der Pacht. Wegen Lina. Weil sie keiner mehr ernst nehmen würde. Wegen Lina. Weil sie vielleicht würde gehen müssen. Und wegen Lina natürlich. Verflixt. Aber sie hatte sich vorgenommen, niemanden hier zu belügen. Das hatte sie auch nicht, soviel sie sich erinnerte. Nur Merten hatte sie damals weiß gemacht, drei Jahre älter zu sein, als es tatsächlich der Fall gewesen war.

Also schaute sie ebenfalls zur Freifrau und rang sich ein gepresstes "Ich werde nächsten Monat sechzehn." ab und schaut rasch auf den Tisch, da war schließlich so eine interessante Kerbe von dem Wurfmesser zurückgeblieben... Trotzdem bekam sie mit, dass die Freifrau sie eine ganze Weile lang musterte und dann wenig Gutes verheißend schnaufte. Aber das wäre nicht das schlimmste gewesen. Was hätte sie darum gegeben, dass Lina gerade etwas bei ihren Bienen zu erledigen gehabt hätte? Aber diese saß ebenfalls mit am Tisch, blinzelte und fragte perplex: "Sech-zehn?"

Um das Chaos perfekt zu machen, erklärte Eleona "Dann haben wir ein Problem." Aliisa seufzte und fragte "Inwiefern?" Die Freifrau erklärte: "Du bist noch nicht mündig. Das heißt, der Pachtvertrag bedarf der Zustimmung deines Vaters oder Vormunds..." Ihr sank das Herz in die Hose und das Blut wich ihr vermutlich aus dem Gesicht. Die Freifrau nippte an ihrem Kaffee, stellte die Tasse wieder ab und atmete tief durch, während Aliisa sie durch die Wimpern hindurch beobachtete.

In diesem Moment war Aliisa sich sicher, dass sie nun alles verlieren würde, mit dem sie seit dem Sonnenwendfest so unerwartet beschenkt worden war: Ein Zuhause, Freunde, Freundlichkeit, eine Aufgabe, eine Zukunft, sprich, ihr Leben. Die Freifrau erklärte: "Aber gut.. Ich sehe ein, dass das in diesem Fall nicht möglich ist.", während sich Lina neben ihr wie ein dunkler, drohender Schatten ausschwieg.

"Aber Lady Morgentau hat gesagt, man sei mit 15 erwachsen in Sturmwind." wandte Aliisa ein. Die Freifrau erläuterte: "Mündig ist man mit 21. Viele Mädchen sind aber mit 15 alt genug, um verheiratet zu werden." "Ein-und-zwanzig?" fragte Aliisa mindestens so entgeistert wie Linas "sech-zehn?" eben. "Ganz genau." meinte die Freifrau. Aliisa blickte zwischen beiden Frauen hin und her und dann doch lieber zur Freifrau. Die redete wenigstens. "Das ist aber noch eine Ewigkeit hin." murmelte Aliisa bedrückt. "Aber wie einundzwanzig seh ich doch auch nicht aus, oder?" fragte sie verzweifelt, worauf allerdings niemand einging.

Eleona schmunzelte und meinte "Ich weiß.. Ihr habt es schon nicht leicht. Gut.. Aliisa.. eine Frage habe ich. Und ich bitte dich, sie absolut ehrlich zu beantworten. Davon wird abhängig sein, was mit dir passiert." Aliisa meinte "Ich hätte euch eben anlügen können, das wäre sicher einfacher gewesen. Ich werde ehrlich sein.", wozu die Freifrau nickte und fragte: "Stimmt der Rest der Geschichte?"

Aliisa überlegte fieberhaft, welche Teile der Geschichte die Freifrau meinen könnte. Was hatte sie ihr nur erzählt? Sie wusste nur, sie hatte nicht geflunkert. Sie hatten sich ja in der einen Nacht des Sonnenwendfestes lange miteinander unterhalten, da hatte es überhaupt keinen Grund gegeben, irgendwas anderes zu erzählen.

Aliisa hatte gefragt "Arathi, Elwynn, Sonnenwendfest?" und die Freifrau hatte genickt und ergänzt "Und dass du weggelaufen bist und seit frühester Kindheit selbst gejagt hast." Aliisa dachte schnell nach. Sixten hatte sie auch schon vor Lykkes Tot mit in den Wald genommen, nur geschossen hatte sie da noch nicht. War sie mit neun Jahre wohl in der frühsten Kindheit gewesen? Zumindest hatte sie seitdem zusammen mit Sixten gejagt, gekocht, geputzt, gewaschen und sich um alles gekümmert. Und seit Sixten aus dem Haus war, hatte sie all das die letzten zweieinhalb Jahre alleine gemacht und auch noch das Geld verdient, um zerbrochene Krüge, Schüsseln und anderes zu ersetzen, wenn der Vater im Suff etwas zerbrach. Aber sie hatte es der Freifrau sicher auch nicht anders erzählt gehabt. Mit neun war sie noch eine ganz andere gewesen. Ein Kind. Es kam ihr einfach Ewigkeiten her vor.

Lina holte tief Luft, pustete aus und sah Aliisa dann offen an. Diese meinte gerade zur Freifrau: "Ja der Rest stimmt. Ich habe einen Vater. Meine Mutter ist tot. Ein Brief um seine Erlaubnis würde vermutlich lange dauern, aber ich werde ihn schreiben... Ja das stimmt alles." Da sie es der Freifrau sicher nicht anders erzählte hatte in jener Nacht auf dem Sonnenwendfest, konnte sie es guten Gewissens bestätigen.

Diese nickte zu der Erklärung und meinte "Nun.. dann ist es wohl mein Fehler, dich nicht gefragt zu haben. Dafür kann ich dich aber nicht verantwortlich machen." Sie behielt den Blick jedoch auf Aliisa gerichtet. Diese hatte mit der einen Hand die andere festgehalten, saß zittrig und blass da, auch versuchte sich nach Möglichkeit nicht anmerken zu lassen, wie es ihr ging. Für das Nebengeplänkel zwischen Nette und der Freifrau hatte sie in dem Moment weder Augen noch Ohren, geschweige denn Kraft. Es war, als wäre die Welt in grau getaucht und als hätte man ihr den Lebensmut ausgesaugt.

Zu allem Unglück stand Lina auf und Aliisa war überzeugt, dass sie sich abwenden würde, zu einem ihrer Seespaziergänge, um den Kopf freizubekommen, oder auch schon jetzt sicher, dass sie nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wollte. Vielleicht würde sie umziehen müssen, wenn nicht gar die Baronie verlassen. Vielleicht müsste sie im Haus wohnen, als Magd oder so arbeiten, bis sie alt genug für eine eigene Jagdpacht wäre? Vielleicht könnte sie sich glücklich schätzen, wenn sie bleiben und die geplante Schule besuchen dürfte.

Linas offensichtliches Interesse an ihr war für sie mittlerweile von befremdlich irritierend, über schmeichelhaft zu lebensnotwendig geworden, wie sollte sie all diese erneuten Umbrüche ohne ihre Zuneigung, vielleicht sogar unter vorwurfsvollen, bösen Blicken ertragen? Wie niederschlagend würde es sein, die Jagdhütte wieder zu räumen? Ihre Gedanken rasten, sprangen und furchten schmerzhaft. Sie schaute zu Lina hoch.

Doch diese ging nicht, sie setzte sich zu Aliisa und nahm ihre zittrige Hand in die eigene. Aliisa hatte überrascht zu ihr geblickt und gemurmelt, dass sie gedacht habe, Lina würde gehen. Diese murmelte "Mitgefangen... mitgehangen".

Dann aber forderte die Freifrau ihre Aufmerksamkeit, die sich nun von Nette wieder ihr zuwandte: "Da die Unterzeichnung des Pachtvertrages auf meinen Fehler zurück zuführen ist," sie unterbrach die Ausführung, Aliisa auf die Folter spannend, um die offenbar richtig angepisste Nette am fortlaufen zu hindern. Dann setze sie den angefangenen Satz mit "erkläre ich den Pachtvertrag für gültig." fort. Aliisa atmete tief aus und bedankte sich. Aber es ging noch weiter: "Und da dein Vater gerade nicht greifbar ist.. übernehme ich derweilen, so du es möchtest.. die provisorische Vormundschaft, falls dich jemand danach fragt."

Sie fragte die Freifrau: "Soll ich dennoch meinem Vater schreiben? Ihr müsst allerdings wissen, dass ich seinetwegen fortgelaufen bin." "Das hatte ich vermutet." entgegnete Eleona. Aliisa lächelte erleichtert und nickte eifrig. Nur zu gern würde sie sich unter die provisorische Vormundschaft der Freiherren stellen, die ja sowieso über ihre Geschicke bestimmten.

Sie hatte dann von der Freifrau erfahren, dass diese in ihrem Alter eine Taverne, einen Marktstand und eine Laden geführt habe, was Aliisa ein Grinsen abrang. Sie bedankte sich noch einmal, während Lina ihre Hand streichelte, die langsam zu zittern aufhörte. Es war wie ein Albdruck von ihr abgefallen. Der Pachtvertrag bestand. Die Freifrau hatte sie nicht erbost fortgeschickt. Was nun mit Lina sein würde, müsste sich finden. Wenn die verschreckt von Aliisas Alter sein würde, könnte sie es ihr nicht übel nehmen.

Während ihre Gedanken noch Kapriolen schlugen, meinte Lina: "Du bist doch kein anderer Mensch, nur weil du jünger bist als ich dachte. Also warum sollt ich gehn...es ist nur ein wenig...komplizierter." Komplizierter. Ohweh. Aber das war schon mehr als befürchtet. Die Freirau meinte abschließend "Tja.. die Sache ist ganz einfach. Aliisa ist auf meinem Grund und Boden. Also fällt sie unter meine Verantwortung." sie schaute zu Lina, während Aliisa eifrig nickte. "Und ich hab nichts dagegen." Aliisa blinzelte. Was meinte sie? Das Aliisa blieb? Oder das mit Lina und ihr? Hatte sie deshalb zu Lina geschaut?

Lina hatte ihr mal erzählt, dass die Freifrau das gar nicht richtig verstehen würde und ihr ab und an Männer vorgestellt habe. Hatte sie das wirklich gemeint? Oder was anderes? Wieso musste das Leben so kompliziert sein, und das auch noch mitten in einem Angriff von dieser seltsamen Kinderreim-Nekromanten-Elfe, der fast alle anderen auf der Brücke nachjagten. Sie war offenbar wieder hier gewesen.

Die Freifrau meinte, Aliisa erinnere sie an sich selbst damals und sie habe auch jemanden gehabt, der ihr geholfen habe, eine Lady Dyrana, von der Aliisa noch nie etwas gehört hatte. Lina meinte "Owei.... Werd mir nicht wie Eleona..bitte nich..." Aliisa war ein wenig perplex. Die Freifrau war doch einfach wunderbar, sie machte sich viele Gedanken, sie kümmerte sich um alle Leute in ihrer Baronie, sie war völlig anders als die Adligen in den Geschichten und Märchen. Naja. abgesehen von der elfischen Gräfin und dem Gemahl war sie auch die einzige Adlige, die Aliisa kannte. Von ein paar kurz zu Besuch auftauchenden abgesehen.

Aliisa holte sich tapsend ihre Decke, wickelte sie sich um die Schulter und blickte weiter auf den dunklen, nicht von Tannen bestandenen Grund des Tannengrundes. Ihre Gedanken gingen immer wieder und wieder den gestrigen Abend durch. Sie würde nicht mehr ohne ihren Bogen den Tannengrund verlassen.

Eleona hatte Nette dann mit einer in Aliisas Augen sehr wichtigen Aufgabe betraut: Aufzuschreiben, wer alle das Lied gehört hatten und wer nicht, mit Namen und Alter. Und auch die, die davon träumen. Die Jäger der Elfe kamen allmählich zurück: Der Leutnant, die magische Gräfinnen-Elfe, die Gnomin Lischi und Sir Edgar. Später auch noch Konogar, der aus der Eisenschmiede zurückgekehrt war und kaum Anschluss an das Durcheinander des Gesprächs fand. Zu Aliisas Bestürzung hatten sowohl Sir Edgar als auch die viele, viele Jahre alte Gnomendame Lischi das Lied gehört. Da ging Nettes und inzwischen auch Aliisas Theorie wohl den Bach runter.

Doch die Freifrau hielt daran fest, dass genau ermittelt werden sollte, wer es hört und wer nicht. Während der Schrecken über das persönliche Schicksal abebbte, nahm der über die aktuelle Bedrohung wieder zu, insbesondere, nachdem Ludmila einen Brief dieser Nekromantenelfe verlesen hatte, in dem sie drohte, der Schatten würde über jeden Bauern, über jeden Mann, jede Frau und jedes Kind kommen. Sie würden sehen, wie ihre Ahnen aus ihren Gräbern auferstehen, wenn man sich nicht von ihren Belangen - und aus dem Sumpf - fernhalten würde.

Das folgende Gespräch war ziemlich verwirrend und Aliisa wurde das Gefühl nicht los, dass es Dinge zwischen der Freifrau und der Gräfin gab, die hier nicht vor allen Ohren ausgesprochen wurden. Auch Nette musste wohl so empfinden, sie sprach aus, was auch Aliisa dachte. Aber wer war sie schon, da Offenheit in allen Belangen zu verlangen? Vielleicht war es sogar ganz gut, nicht alle Möglichkeiten oder Bedrohungen zu kennen, ihr Kopf war auch so schon am rotieren. Aber es gab ihr einen Stich wenn sie daran dachte, dass manche sie nun vielleicht für ein dummes kleines Mädchen halten würden und nicht für eine Frau, die Entscheidungen treffen kann.

Immerhin wies die Freifrau den Leutnant an, an allen Operationen, die in dem Gebiet durchzuführen sind, explizit nur ältere und erfahrene Gardisten teilnehmen zu lassen, sie wollte dort keinen sehen, der jünger als 30 ist. Was auch immer aus Nettes und Aliisas Theorie werden würden, diese Maßnahme klang sinnvoll. Auch wenn das für die arme, tatendurstige Knappin hieß, dass sie draußen war. Genau wie Aliisa. Und Lina, die Aliisa auf Mitte bis Ende zwanzig schätzte.

Die Gräfin berichtete von Dunkelheit, schwarzer Flüssigkeit und Nebel, erlöschenden Lampen in Kreuzlingen und anderem beunruhigenden. Die Freifrau meinte, Kinder und alte Leute hätten etwas gemeinsam und wies Nette an, auch zu notieren, ab welchem Alter die Männer die Melodie wieder gehört haben. "Kinder und alte Leute sind sehr empfänglich für Mysterien.. für Geistergeschichten.. für Legenden." mutmaßte die Freifrau.

Die Freifrau meinte, Lina und Aliisa müssten im Tannengrund sicher sein. Sie sollten dennoch vorsichtig bleiben. Lina sagte "Ich geh auch gleich zurück, kann nicht noch eine Nacht hier bleiben." Aliisa meinte, sie würde sie dann begleiten. Immerhin versicherten ihr mehrere, dass es keine untoten Mücken gäbe. Die Vorstellung war gruselig, Vielleicht würden untote Mücken den Untot per Stich übertragen, scheußlich.

Irgendwo draußen hörte Aliisa eine Eule schreien. Vermutlich hatte sie ein schlafendes Beutetier erwischt, vielleicht eine Maus? Ihre Gedanken wanderten kurz durch entspannendere Gefilde, doch kehrten sie bald zum vorigen Themenkreis zurück, als könne Aliisa nicht anders, als noch einmal die Gefühle, Ängste und Sorgen des gestrigen Abend zu durchleben.

Schließlich waren Lina und sie aufgebrochen und hatten sich auf den Weg vom Gutshaus zum Tannengrund gemacht. Es war schon finstere Nacht gewesen, aber Aliisa war trotzdem froh gewesen, nach Hause zu gehen, zu dem Zuhause, das sie an diesem Abend beinahe verloren hätte.

Irgendwo, mitten auf dem Weg, hatten sie Blicke getauscht, waren ins Reden gekommen und schließlich sogar stehen geblieben. "Mir schwirrt der Kopf. Der ganze Abend... chaotisch, frustrierend auch...naja..." meinte Lina und lächelte Aliisa dennoch an. "Es tut mir Leid, ich fühl mich als hätte ich gelogen." erklärte die Fünfzehnjährige. "Meine Meinung von dir hat sich nicht geändert." sagte Lina und Aliisa bekam einen Kuss auf die Nasenspitze.

Später fragte Aliisa leichtsinniger Weise Lina nach ihrem Alter. "Vier-und-dreißig?" Aliisa war ungefähr genauso geschockt wie Lina zuvor. Lina lag altersmäßig dichter an Sir Edgar als an ihr! Der Altersunterschied war größer, als Aliisa überhaupt auf der Welt war! Sie rechnete fieberhaft, ihre Mama wäre heute 37, wenn sie noch leben würde. Immerhin, aber trotzdem. Wollte sie da irgendwas kompensieren?

Aliisa seufzte leise, als sie das Gefühlschaos erneut durchlebte, während die frische Luft durch das offene Fenster herein kam und sie belebte. Als Lina ihr eröffnet hatte, dass sie wohl wirklich nicht geeignet sei, ihr Schatz zu werden, war ihr wohl spätestens endgültig klar geworden, dass das aber genau das war, was sie wollte. Lina sagte ihr: "Ich hab mich in dich verliebt, da denk ich nicht an andere, aber..ich weiß nicht, ob das gut ist..gut sein kann..."

Aliisa seufzte leise, genau wie am gestrigen Abend an dieser Stelle. Zuerst hatte sie "Wir könnten beide nächste Woche sterben. Wäre es dann nicht egal?" eingeworfen, doch dann hatte sie Lina einen Ausweg geboten: "Aber... wenn dir das zu... seltsam ist dann versteh ich das. Oder wenn die Leute das noch seltsamer finden als eh schon zwei Frauen." Lina hatte gemeint "Es ist nicht seltsam..." Doch für Aliisa war es das immer noch. Es war neu für sie.

Und doch hatte sie Lina dann überrascht. Vermutlich hatten sie sich beide überrascht. Lina Aliisa mit "Ich lieb dich Weib...mir ist's egal wie alt du bist..." und andersherum hatte Aliisas "Ich glaub ich lieb dich auch..." Lina verblüfft dreinschauen lassen. Aliisa schaute hinter sich in den Raum, in dem Lina in dem anderen Bett friedlich schlief. Sie schmunzelte.

Es mochte verrückt sein. Total seltsam. Und immer wieder fragte sich ihr Verstand, ob das alles so richtig sei mit Lina und ihr. Doch ihrem Herzen waren diese Zweifel fremd. Vielleicht .. lag es auch an ihrem alten Vater, dem zwölf Jahre älteren Bruder? Auch Merten war knapp 30 gewesen. Sie schloss den Fensterflügel wieder und ließ nur die Luftklappe oben offen, bevor sie zurück zu ihrem Bett ging. Die bloßen Füße waren ihr langsam kalt geworden. Sie wendete das Kopfkissen und schüttelte es wieder auf, bevor sie sich in ihre Decke wickelte, noch einmal zu Lina blickte, und dann zusammengerollt einzuschlafen versuchte.

Sie hatten sich den Tag gemerkt, den 26. Juli. Und nun verbrachten sie schon die zweite Nacht miteinander und Aliisa hatte immer noch keine Vorstellung davon, wie "es" mit einer Frau vonstatten gehen würde. Aber "es" war im Moment irgendwie erstaunlich unwichtig, während die Nicht-Beziehung mit Merten irgendwie hauptsächlich davon getragen worden war.

Fünfzehn war auch relativ. Aliisa hatte nie viel darüber nachgedacht, aber sie hatte sich nicht nur als Erwachsen (aus)gegeben, sie hatte sich auch erwachsen gefühlt. Sie konnte einen Haushalt führen, sie konnte ihren Lebensunterhalt verdienen, sie hatte ihr Leben selbst in die Hand genommen, ohne in der Gosse zu landen und wenn sie andere Fünfzehnjährige sah, Jungs vor allem, oder auch Ella, die lieb und nett schien, aber eben wirklich auch kindlich - zumindest bevor sie wusste, dass Ella und Methilda ein Paar waren, dann gab es da meilenweite Unterschiede. Außerdem wäre sie ja bald sechzehn. Mit dem selbstironischen Gedanken 'Was sind schon neunzehn Jahre, wenn man fünfzehn ist?' schlummerte sie letztlich ein.

Den Rest der Nacht schlief Aliisa wesentlich ruhiger. Lina und sie erwachten erst spät, offenbar hatte beide der Abend ziemlich angestrengt. Nach dem Frühstück - Aliisa liebte diese Mahlzeit, besonders seit sie hier lebte und es immer viel Honig gab - machte sie sich ans Werk. Diesmal strich sie nicht gleich durch den Wald, sondern fertigte Pfeil-Rohlinge an. Später ging sie - natürlich nicht ohne Pfeil und Bogen - los, um Federn und geeignete Steine für die Spitzen zu suchen und Ausschau nach Hasel-Stämmchen von geeignetem Wuchs zu halten. Solange sie nicht mehr über den Bogen bau gelehrt bekam, würde sie bei dem bleiben, was sie kannte, und den nächsten Bogen einfach etwas größer machen. Ob das richtig war?

Vielleicht könnte sie später auch noch Sir Edgars "Alte Schmiede" aufsuchen. Vielleicht ließen sich kleine Metallspitzen für Pfeile herstellen. Falls sie sich das leisten konnte. Solche aus Silber gegen Geister wären auf jeden Fall jenseits ihrer momentanen Liquidität. Aber immerhin wusste sie nun, dass man Pfeile weihen lassen konnte. Es gab so viel zu tun. Und der Wald und das Wild wollte ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Dazu hatte sie nun eine .. Freundin? Partnerin? Aliisa grinste schief, während sie die Enden des der Länge nach halbierten Haselnussstämmchens in ölige Lappen wickelte, denn das Gefühl nun ein Paar zu sein, war immer noch seltsam unvertraut.

Köderbau[]

Als Aliisa am Morgen in ihre Hütte zurückkehrte - geschlafen hatte sie bei Lina im Haus nebenan - fand sie überraschender Weise einen Briefumschlag mit gnomereganischem Siegel und Sektor VII Zeichen auf dem Boden hinter der Tür vor. Vermutlich sollte sie langsam mal einen Briefkasten anbringen!

Neugierig hob sie den Brief auf, brach nach längerer Betrachtung ehrfurchtsvoll das Siegel - einen versiegelten Brief hatte sie noch nie erhalten - und las das Schreiben:

Werte Aliisa Magnusson,


Eleona hat mir gesagt ich solle mich an euch wenden. Es geht um einen ausgestopften Fuchs, besser gesagt, Welpengröße.

Wird benötigt um herauszufinden, was in diesem Sumpf vor sich geht.

Ich bestelle hiermit einen ausgestopften, und bei Bedarf bitte nicht zu sehr innen befüllen, damit ich das Innere auskleiden kann.


Gnomische Grüße

Lischi Blitzknip

Aliisa runzelte die Stirn und las den Brief ein zweites Mal. 'Einen ausgestopften Fuchs?' fragte sie sich. Von Tierpräparation hatte sie keine Ahnung, aber wenn der Fuchs für den Sumpf gebraucht wurde, musste er wohl nicht für mehrere Jahre täuschend echt aussehen.

Sie war geschmeichelt, dass die Freifrau die Gnomin zu ihr geschickt hatte. Die Nebelfüchse hätten da vielleicht näher gelegen. Vielleicht war es eine kleine Antwort auf das Geschenk, das Aliisa Eleona gemacht hatte: Den Pelz des ersten im Tannengrund geschossenen Tieres. Es war auch ein Fuchs gewesen, ein ausgewachsener aber natürlich.

Vielleicht war es auch ein Zeichen, dass die Freifrau sie ernst nahm, auch nachdem sie erfahren hatte, dass die Jagdpächterin, die sie sich da eingehandelt hatte, erst fünfzehn Jahre alt war.

So oder so, Aliisa freute sich sehr, ihr Herz pochte. Nun, zunächst musste ein kleiner Fuchs her. Es dauerte sie kurz darum, ein so junges Leben zu nehmen, aber wenn das auch nur ein wenig dazu beitragen könnte, die entführten Kinder zurück zu bringen, würde sie gern auch mehr als nur einen Welpen jagen und ausstopfen.

Bei ihren Wanderungen durch ihr Jagdpachtgebiet waren ihr mehrere Fuchsbauten aufgefallen. Teils wirkten sie verlassen, bei manchen waren aber Anzeichen der Bewohner zu erkennen, auch wenn sich natürlich kein Fuchs sehen ließ, wenn ein trampeliger Mensch vorbeikam und die Erde beben ließ.

Aliisa schnappte sich Köcher und Bogen sowie den Ledersack, in dem sie üblicher Weise die Beute nach Hause schaffte, wenn diese nicht zu groß war, wie diese Wildsau neulich. Kurz musste Aliisa grinsen, als sie sich daran erinnerte.

Auf dem Weg zum Wald ging sie zunächst zu den Bienenstöcken, um von der von ihren Untergebenen umschwirrten Bienenkönigin eine vorsichtige Umarmung - schließlich wollten sie ungern Bienen zwischen sich einklemmen - und einen Kuss abzuholen.

Als Aliisa dann so Richtung Waldrand marschierte, überlegte sich Aliisa: Wenn die Gnomin in dem Tier Platz brauchte, wollte sie es gewiss mit Sprengstoff füllen. Oder? Wer wusste das schon. Andererseits, hätte sie dann einen Welpen bestellt? In einen ausgewachsenen Fuchs passte schließlich viel mehr davon.

Was hatte Miss Blitzknip noch geschrieben? Es ging darum, herauszufinden, was im Sumpf vor sich ging. Ob irgendwelche Gerätschaften hinein sollten, die die Gnomendame hören oder sehen ließen, was dort passierte? Ob sie dann die Augen des Fuchses herausnehmen sollte? Bei richtig gut präparierten Tieren waren die durch Glasaugen ausgetauscht. Sowas hatte sie natürlich nicht.

Aliisa war fest entschlossen, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln das bestmögliche zu tun, um das Vertrauen der Freifrau nicht zu enttäuschen. Außerdem konnte es nicht schaden, den "Kundenstamm" zu erweitern. Es war ein schöner Tag, sonnig, mit großen, fluffigen Wolken, die gelegentlich einmal Schatten spendeten.

Der Fuchsbau, der ihr am vielversprechendsten in Erinnerung gewesen war, lag vor ihr. Doch hatte sie weder Hunde, die sie hineintreiben konnte, noch wusste sie, wo alle Ein- und Ausgänge des Baus lagen. Das war eh nicht der richtige Weg, alleine. Sie musste es so halten, wie bei ihrem ersten Fuchs, der ihr in freier Wildbahn begegnet war.

Etwas später schlich sich Aliisa in Deckung von Bäumen und Gebüsch bleibend behutsam gegen den Wind an, eine breitere Stelle eines eher gemütlich dahinfließenden Bächleins unweit des Fuchsbaus war ihr Ziel. Langsam und behutsam ging die junge Jägerin vor. Sie hatte dabei immer noch Sixten vor Augen, der ihr Jahre lang gezeigt hatte, wie sie sich im Wald bewegen müsse. Seine lange Gestalt, seine langen Glieder, mit denen er sich so unnachahmlich geschickt und leise anschleichen konnte, stand ihr dabei vor Augen. So elegant würde sie sich nie bewegen können.

Und tatsächlich, dort vor ihr blitzten mehrere kleine, rote, hin und her tollende Gestalten in der Sonne auf. Aliisa lächelte. Ein ausgewachsener Fuchs, vermutlich die Fähe, wie Aliisa vermutete, beaufsichtigte ihren Nachsuchs: Fünf kleine, rotfellige Wonneproppen, die miteinander balgten, an Ästen herumkauten und sich auch mal ans Wasser herantrauten.

Aliisa fasste sich ein Herz. Es machte keinen Sinn, noch länger zuzuschauen und die kleinen Balger noch mehr ins Herz zu schließen. Von einem Wurf, der meist, wie auch hier, vier bis sechs Jungtiere umfasste, überlebten in der Regel eh nur wenige. So zog sie behutsam einen Pfeil aus dem Köcher und spannte den Bogen.


Am späten Nachmittag arbeitete Aliisa schon seit geraumer Zeit mit hochgekrempelten Ärmeln vor ihrer Hütte auf einem improvisierten Tisch. Schließlich betrachtete sie ihr Werk abschließend skeptisch. Sie hatte dem Welpen das Fell abgezogen, aber den Kopf ganz gelassen, da sie nicht wusste, wie sie den sonst passend modellieren könnte. Mit Bast verbundene Stöcker und Stöckchen bildeten das wenigstens einigermaßen natürlich nachgeformte Skelett des Jungtieres. Die vier Läufe hatte sie mit Stroh gefüllt und zugenäht, auch den Rücken hatte sie damit gefüllt, modelliert und mit ein wenig verschmiertem Lehm das Stroh gegen Herausfallen gesichert. Am Bauch ließ sie die beiden Fellteile offen.

Sie war nicht wirklich zufrieden. Vermutlich hätte sie andere Werkzeuge und Hilfmittel gebraucht, um das Tier richtig zu präparieren. Aliisa hoffte innig, es würde zu diesem Zweck reichen. Der Welpe stand auf seinen vier Beinen, den Kopf ein wenig erhoben. Immerhin sah er wie ein Füchslein aus.

Akribisch reinigte sie das Fell von allen verdächtigen Überresten wie Stohhalmen, Nähgarnresten, Lehmklümpchen oder auch Blutspritzern. Anschließend packte sie den kleinen in eine gepolsterte Kiste, wusch sich gründlich mit der Wurzelbürste und einem Seifen-Sand-Gemisch die Hände und machte sich auf den Weg, nachdem sie eine Antwort verfast hatte, falls sie Miss Blitzknipp nicht antreffen sollte.

In ungelenker Handschrift und auch nicht ohne Schreibfehler stand dort:

Werte Miss Blitzknip,


ich hoffe, der kleine Bursche ist ganz in Eurem Sinne. Falls Ihr neben der Öffnung am Bauch noch besondere Zugänge nach draußen braucht, kann ich die gerne noch nachliefern.

Ich bin keine Tierpräparatorin, der Fuchs wird nach einer Weile anfangen zu stinken, fürchte ich. Aber bis dahin wird er hoffentlich seinen Zweck erfüllen. Den Bauchraum habe ich freigelassen, damit Ihr Eure Gerätschaften dort unterbringen könnt.

Sollte das nicht Euren Anforderungen genügen, so gebt mir bitte Bescheid, dann werde ich das Fell innen gerben lassen und den Schädel herausnehmen und anderweitig füllen. Allerdings weiß ich, dass der Gerbprozess eine Weile dauert, und ich vermutete, dass Ihr den Fuchs schnell benötigt.

Werdet Ihr dadurch hören oder sehen können, was im Mückensumpf vor sich geht?


In der Hoffnung, einen kleinen Beitrag gegen diese schreckliche Plage geleistet zu haben, mit den besten Grüßen und dem Wunsch, viel Erfolg zu haben, Eure

Aliisa Magnusson

Die doch recht eloquente Wortwahl stand in einem auffälligen Missverhältnis zu den sichtlich mit viel Mühe und einigen Fehlern zu Papier gebrachten Worten.


So wanderte Aliisa etwas später im Abendlicht nach Kreuzlingen, fragte sich zur Wohnung der Gnomendame durch und stellte dort die Kiste vor die Tür, an einen schattigen Platz.


Rückkehr in die Jagdhütte[]

Immer noch duftete die Jagdhütte nach dem frischen Holz, das zu den Reparaturen und zur Anfertigung der Möbel verwendet worden war, als Aliisa am Morgen die Tür aufstieß und in die seit über zwei Wochen verwaiste Jagdhütte trat. Sie atmete den Geruch tief ein, harzig und klar, aber auch etwas abgestanden, bevor sie die Fensterläden öffnete und durchlüftete.

Die Jagdhütte benutzte sie inzwischen nur noch für die Arbeit und lebte nebenan in Linas Haus. Heute würde sie die Jagdhütte endlich wieder gebrauchen und auf die Pirsch gehen. Es war ja eine Weile her und Aliisa war gespannt auf die Veränderungen "ihres" Waldes. Ob schon erste Vorboten des nahenden Herbstes zu sehen wären? Ob die Gnolle nach wie vor artig oben im Gebiet ihrer Höhle geblieben waren?

Als ihr Blick auf ihre Hände fiel, die die Fallen für den Gang in den Wald bereit legten, welche sie natürlich vor ihrer Abwesenheit eingesammelt hatte, damit kein Tier unnötig leiden oder unnötig sterben müsse, stachen ihr ihre braunen Finger ins Auge.


Heiß war es in Elwynn gewesen, wo Aliisa zwei Wochen bei der Ernte geholfen hatte, um die Bauersleute nicht im Stich zu lassen, für die sie das letzte Jahr gearbeitet und bei denen sie gewohnt hatte, bevor sie in den Tannengrund umgezogen war.

Bei der Arbeit auf dem Feld unter der brennenden Sommersonne war der Schweiß in Strömen geflossen, die Kleidung hatte auf ihrer verschwitzten Haut geklebt und es galt viel, viel zu trinken. Garbe um Garbe hatte sie geschnitten, zusammengerafft, gebunden, auf den Wagen geworfen. Später am Abend im Hof waren die Garben wieder ausgeladen und in einer Menschenkette, in der die Garben von Hand zu Hand gingen, bis in die Tenne, wo die Körner wohl noch bis in den Winter hinein mit Dreschflegeln von den Halmen getrennt werden würden, befördert worden. Dieses Jahr würde sie bei dieser Arbeit nicht mehr dabei sein.

Am Ende war Aliisa im Gesicht, am Hals und Ausschnitt sowie an Händen und Armen tief gebräunt, während der Rest des Körpers wenig Sonne abbekommen hatte. Ihre Haare hatte die Sonne hingegen aufgehellt, zumindest die oberen Schichten, die nun einen etwas schöneren Blondton aufwiesen. Aliisa hoffte, ihre bäurische Hautfarbe würde den Modeschauen nicht im Wege stehen, auf denen sie Lady von Morgentaus Kreationen vorführen sollte.

Sie seufzte. Ob es dazu nun noch kommen würde? Vor ein paar Tagen noch hatte die Hochelfe ihr dies versichert, aber nun war dieser vorerst der Zugang zur Feste der von Wolfenbergs verwehrt. Immerhin dürfte sie in den Tannengrund kommen und Aliisa auch zu Lady von Morgentau in den Finsterhain - sofern diese denn dort wohnen bleiben würde. Sonst würde es schwierig werden.


Immer noch war ihr ein Rätsel, was vorgefallen sein mochte. Oder besser, was der Grund, der Auslöser dafür gewesen war. Schon als sie just dann nach Eisenschmiede mitgenommen worden war, als sie gerade wieder in der Baronie angelangt war, waren alle seltsam gereizt gewesen.

Auf ihrer vom Haus der Noblen angeordneten Mission im Alterac und später im Hinterland hatten diese Spannungen immer mehr zugenommen und ihre Freunde hatten sich gegenseitig angegiftet und manchmal sogar offen beleidigt, etwas, das sie nie von ihnen erwartet hätte.


Nun stand das Schulprojekt ohne die angedachte Leiterin in den Sternen, Aliisa hoffte sehr, dass ihr wenigstens Konogar als Lehrer erhalten bleiben würde, selbst wenn es ersteinmal nur Mathematikunterricht geben würde. Sie war immer noch gespannt, wie das mit diesen Bruchzahlen nun genau funktionieren würde. Und was diese Gleichungen sein mochten, von denen der fellige Lehrer gesprochen hatte. Vielleicht war es sowieso das beste, einfach mal mit einem Fach anzufangen, anstatt alles ewig zu planen und dann nicht so stattfinden zu lassen.

Zunächst aber würde es eine Vortragsreihe über Uldum geben. Immerhin darauf konnte sich Aliisa freuen. Acht Vortragsabende waren geplant. Vielleicht könnte sie sich wüstenartige Kleidung dafür improvisieren... erneut gab es ihr einen Stich, dass Lady von Morgentau nun nicht mehr in der Nähe war, sie hätte ihr sicher helfen können und vielleicht auch gewusst, was man dort trug. Vielleicht weiße Gewänder gegen die Hitze? Oder bunte, knappe, farbenfrohe gewagte Kombinationen mit - natürlich nicht echtem - Goldschmuck und viel brauner Haut? Nur blöd, dass abgesehen von ein paar Stellen ihre Haut recht käsig war. Aliisa hatte ein diffuses Bild vom abenteuerlichen Leben in einer Stadt aus weißen Zelten vor Augen, mit fremdartigen Gerüchen, sonderbarer Musik und seltsamen Tänzen, Rasseln und Schellen, schwingenden, hübschen Hüften und Bäuchen...

Bauchtanz wäre wohl auch etwas für sie selbst, zumindest hatte das irgendwer mal zu ihr gesagt, und sie war sich nicht ganz sicher, ob das gut oder schlecht war. Aber wer weiß, aus welchen Erzählungen ihre Phantasien entsprungen war und wie es in diesem fernen Wüstenland wirklich wäre?

Viel heißer als in der prallen Sonne auf den Feldern von Elwynn zu schuften konnte es nicht wirklich sein. Körperlich spürte sie den in ihrer Vorstellung zwischen den Brüsten hinab fließenden Schweiß, die in der feuchten Stirn klebenden, ausgebüchsten Haare, den Staub in Mund und Nase, der sie noch Tage nach der letzten Ernte schwarz niesen ließ.

Ja, vermutlich würde es nicht nur angenehm sein, ein so heißes Land zu bereisen, aber doch lockte sie die Fremde. Dabei sollte sie froh sein, wieder in ihrem ja eigentlich immer noch recht neuen Zuhause zu sein. Und das war sie auch, sehr sogar! Aliisa lächelte und gesammelt schloss sie die Tür ihrer Hütte hinter sich und schritt munter auf den Waldrand zu.


Aliisa hört den Ausrufer[]

Aliisa lauschte dem Ausrufer, der durch Kreuzlingen schritt: "Hört ! Hört ! Erste Anmeldungen für die Wahl zur Erntedankkönigin sind eingegangen! Identität der Damen noch nicht bekannt gegeben. Meldet Euch! Noch sind Plätze frei." war da zu hören.

Was es damit wohl auf sich haben mochte? Nach ihrer ganze Hilfe bei der Ernte in Elwynn wäre sie doch eigentlich recht geeignet. Oder? Einige Leute wie die Freifrau, Lina und Lady von Morgentau fanden ihre Figur ganz wundervoll, andere riefen ihr Schimpfworte nach. Aliisa grübelte ein wenig nach, wie es wohl wäre, teilzunehmen und nicht gewählt zu werden. Eine Enttäuschung, der sie mit der Nicht-Teilnahme einfach aus dem Weg gehen könnte.

Aber zunächst einmal wollte sie gern mehr herausfinden, wie das ganze von statten gehen solle und wonach denn überhaupt gewählt würde. Bestimmt müsste man sich irgendwie herausputzen. Da ging es ja schon los. Oder sollte sie vielleicht Lina nominieren? Immerhin erntete diese dauernd Honig, das galt es ja auch zu feiern.

So schlenderte Aliisa aufmerksam durch Kreuzlingen und tatsächlich stieß sie dabei auf einen Aushang, der einige ihrer Fragen beantwortete:

Ein Höhepunkt des Marktes wird die Wahl der Erntekönigin sein, die nicht nur das erste Fass des frisch gebrauten Bieres anstechen darf, sondern ihr wird auch die große Ehre zuteil, den Viehmarkt zur Schlachtenzeit feierlich zu eröffnen.

Ab sofort darf sich jede Dame gleich welchen Volkes, Geburt und welchen Standes als Kandidatin zur Wahl der Erntekönigin anmelden oder nominiert werden.

Doch werden nur fünf Damen die Ehre haben, sich dem Publikum zu präsentieren und an der Wahl teilzunehmen.

Entscheidend für die Bewertung sind :

  • Das gewählte Kostüm
  • Die eigene Präsentation der Dame auf einer Tribüne
  • Eine Aufgabe, die ihr einem Zuschauer stellen darf. (Das kann das Binden einer Garbe. eines Erntedankkranzes, das Schmücken einer kleinen Erntedankkrone, das Singen eines Erntedankliedes oder ähnliches sein. Hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Die Aufgabe muss zum Thema Erntedank passen und darf nicht entwürdigend sein.)


Bewertet wird wie folgt:

Jeder, der aus dem Publikum an der Wahl der Erntekönigin teilnehmen möchte, darf sich aus einem Korb vor der Tribüne einen Apfel nehmen.

Hinter einem Wandschirm stehen fünf Körbe, jeweils mit dem Namen der Kandidatin versehen. Diese Körbe werden von einem Angehörigen der Baronie beaufsichtigt.

Nachdem sich alle Kandidatinnen präsentiert haben, darf das Publikum seine Stimme abgeben,

Um die Stimme abzugeben muss nun der Apfel im Korb mit dem Namen der Kandidatin abgelegt werden, die mit ihrer Präsentation überzeugt hat.

Sind alle Stimmen abgegeben, erfolgt die Auszählung der Äpfel. Wer die meisten Äpfel in seinem Korb vorweisen kann, gewinnt die Wahl und wird somit die erste Erntekönigin der Nebelberge.

Anmeldungen für die Teilnahme können ab sofort auf den üblichen Wegen bei Freifrau Eleona von Wolfenberg oder der Schreibstube der Baronie erfolgen.

Wir freuen uns auf eine spannende Wahl der ersten " Erntekönigin der Nebelberge"!

Also ging es um das Kostüm, die Präsentation und die Lösung der Aufgabe. Garben konnte sie mittlerweile im Schlaf binden, aber ein Erntedanklied müsste sie sich erst überlegen. Allerdings könnte man sich ja darauf vorbereiten.

Würde sie sich das zutrauen? Wollte sie so im Mittelpunkt stehen? Oder war es andererseits nicht feige, dabei nicht mitzuspielen? Aliisa grinste und grübelte vor sich hin. Sie war beileibe nicht die einzige vor dem Aushang.

Wie könnte sie sich bloß kostümieren? Ein Kranz mit eingeflochtenen Ähren im Haar? Ein vertrocknet-gelb-farbenes Kleid - nur woher nehmen und nicht stehlen - oder eher auf das Königinnenthema eingehen?

Hatte sie nicht eigentlich genug andere Dinge zu erledigen? Hin- und hergerissen trat sie von einem Fuß auf den anderen.


Morgens am Hafen[]

Heute würde es zurück nach Hause gehen, ging es Aliisa durch den Kopf, als sie sich leise für ihren morgendlichen fünf-Kilometer-Lauf fertig machte, während Lina noch friedlich schlummernd in der Hängematte lag. Schlichte Leinensachen zog sie sich an, nur nicht zu dick anziehen, aber nach den gestrigen Erfahrungen auch nicht Arm- und Schulterfrei - bis auf die Riemchen - vielleicht würde sie heute ja weniger Aufmerksamkeit ernten. Dazu die vier Manschetten, die ihre Ausbilderin Miss Courtney Piers ihr ausgehändigt hatte. Es waren weich gepolsterte Exemplare, die sie sich über die Hände und die Füße streifte, bevor sie ihre Stoffschuhe zuschnürte. Eine jede dieser Manschetten hatte irgendwas schweres im Inneren und brachte wohl ungefähr ein Kilogramm auf die Waage.

Aliisa blickte sich nochmal in der Kajüte um, dann nickte sie und schlich leise heraus. Möwengeschrei begrüßte sie, als sie an Deck trat. Sowie auch ein frischer, kühler Wind vom Meer, den sie etwas später schon sehr begrüßen würde, doch im Moment ließ er sie frösteln. Aliisa hielt sich gar nicht lange mit Bedenken auf, nach einem Morgengruß an die Deckwache überquerte sie die schmale Planke zum Steg und lief dann sogleich los, diesem entlang gen Hafen folgend.

Hier hatte sie anders als Zuhause die fünf Kilometer nicht genau abgemessen, aber sie wusste ja, wie lange sie in der Baronie etwa lief und wie sich Kilometer um Kilometer in ihrem Körper anfühlten. Es waren vermutlich etwas mehr als fünf, die sie hier lief, um sich auch ja nicht um die Aufgabe zu drücken.

Wolkenfetzen zogen schnell von West nach Ost. Das Holz war noch feucht, auf mancher Plane, die gestapelte Ware schütze, standen kleine Pfützen, doch im Moment regnete es immerhin nicht. Locker und entspannt lief Aliisa die erste Strecke, den erstaunlich riesigen Hafen von Sturmwind entlang. Kai um Kai, Warenstapel um Warenstapel glitten vorbei. Schuppen hier, Lagerhallen dort. Geschäftiges Treiben fast überall, der Hafen war offenbar früh auf den Beinen.

Die gewaltigen Bauten der Werft kamen langsam näher. Und ja, es war besser, wenn auch nur ein wenig. Vermutlich liefen hier sonst einfach keine Frauen herum, oder wie sollte sie sich all diese Pfiffe, Scherzworte und zugerufenen Zotigkeiten erklären? Vielleicht hätte sie ihren Busen binden sollen? Irgendeinen Haken musste es ja haben, dass ihr Körper, über den sie selbst, bevor sie in der Baronie eingetroffen war - wenn sie überhaupt über sowas nachdachte - immer eher kritisch gedacht hatte: Zu viel. Zu viel hier, zu viel da, langweilige Haarfarbe, ach und dies und das halt. Aber hier schien er einigen Damen wirklich zu gefallen. Und einigen Herren offenbar auch, wobei diese Kerle hier am Hafen vermutlich nicht sonderlich wählerisch waren. Jung und kurvig reichte da vielleicht schon aus. Oder... einfach nur weiblich? Sie schüttelte den Gedanken ab und lief etwas schneller.

Auch die vielen Arbeiter an der Werft, teils an klapprigen Gestellen hoch oben in der Luft irgendwas an der gewaltigen Außenseite eines Ozeanriesen werkelnd, hatten immer noch Zeit genug, ihr nachzupfeifen, als sie an ihnen vorbei lief. Dahinter wurde es besser. Ein kleiner Uferpfad führte hinter dem Leuchtturm - der leider auf einer Insel stand und so nicht umlaufen werden konnte - zwischen den immer näher an die Küste heranrückenden Hügeln und der Wasserkante entlang.

Inzwischen spürte Aliisa die Gewichte an Armen und Beinen nur zu deutlich. Der Schweiß lief ihr über Gesicht und Leib, immer wieder wischte sie mit den Ärmeln an den Oberarmen über Stirn und Wangen. Langsam schaffte sie nur noch einen Schritt, bevor sie wieder Atem schöpfen musste. Sie drosselte das Tempo ein wenig. Hier gab es nur noch Möwen und Schwärme winziger, bräunlicher Vögelchen, die gemeinsam dort herumpickten, wo die Wellen offenbar etwas essbares anspülten und die hektisch wie eine kleine, dunkle Wolke vor ihr aufflogen, wenn sie sich ihnen zu sehr näherte, um dann schimpfend hinter ihr wieder zu landen und ihr Geschäft wieder aufzunehmen.

Manchmal gelang es, und die Gedanken schweiften beim Laufen frei herum. Kalt war Aliisa schon lange nicht mehr und die Belastung des Frühsports fühlte sich eigentlich auch ganz gut an in ihren Muskeln und was da noch alles so in ihrem Leib sein mochte. Manchmal war es aber auch Quälerei. Gerade die letzten zwei Kilometer, nur zum Ende hin, wenn eben dieses in Sicht war, klebte zwar alles an ihr, nass vor Schweiß, aber immerhin läge die morgendliche Tortour für heute hinter ihr.

Nicht, dass sie sonst untätig wäre. An normalen Tagen war sie dann etwas später, gewaschen und bewaffnet gen Wald aufgebrochen, ihrem täglichen Handwerk folgend. Anfangs war ihr das dann schwer gefallen, wegen der schmerzenden Beine. Doch es half ja nichts, der Lebensunterhalt wollte verdient, das Wild kontrolliert, Essen herangeschafft und die Freifrau nicht enttäuscht werden. Genausowenig die Ausbilderin.

Heute würden sie später alle zusammen zurück in den Rotkamm reisen. Aliisa fragt sich, ob sie den Karren mit den Steinen begleiten würden. Ob das dann überhaupt in einem Tag zu schaffen war? Nun, sie würde es erleben.

Zurück an Bord war nun mehr Leben erwacht. Eigentlich war es schön, mit all den Lieben Menschen - und Gnomen - hier zusammen zu wohnen. Auch Lina war inzwischen auf den Beinen. Aliisa gab ihr einen spitzmüdiges Küsschen, denn sie fühlte sich schmutzig, so verschwitzt. Doch stürzte sie nicht gleich zur Waschschüssel. Sie kannte das schon: Am ersten Morgen hatte sie sich sofort nach dem Lauf gewaschen, mit dem Erfolg, dass sie sich zwanzig Minuten später erneut waschen musste. Irgendwie schwitzte sie nach, auch wenn sie ganz friedlich dasaß. So reinigte sie nur provisorisch Gesicht, Hände und Unterarme und setzte sich an das winzige Tischlein in Linas und ihrer Kajüte, nahm Feder und Tinte sowie einen Bogen Pergament aus ihrer Tasche und atmete tief durch.

Viel zu lange hatte sie es vor sich hergeschoben. Immer hatte es dringlicheres oder vergnüglicheres gegeben, doch es half nichts. Sie war es ihm einfach schuldig, einige der sicherlich bohrenden Fragen zu beantworten, die ihren Bruder seit über einem Jahr umtreiben mussten. Es war sicher unverantwortlich, dass sie sich erst jetzt meldete, doch inzwischen hatte sie die Sicherheit, dass ihr jemand wichtiges zur Seite stände, sollte ihr Vater sie zurückholen wollen.


Lieber Sixten,

bitte verzeih, dass ich mich erst jetzt, nach so langer Zeit bei dir melde. Ich hoffe, Lilly und du sind bei bester Gesundheit! Ja, und auch Gustav. Du wirst dich fragen, warum ich fort gegangen bin. Oder vielleicht weißt du es auch. Als du noch zu Hause warst, hast du dich ja oft genug vor mich gestellt und die Schläge eingesteckt.

Nein, das ist kein Vorwurf, dass du ausgezogen bist. Ich habe dich ja selbst am meisten dazu gedrängt. Das war richtig und wichtig. Ich dachte, ich würde es aushalten. Ich war geschickt und flink, doch nicht immer flink genug. Immer diese Angst, immer das bange Horchen, in welchem Zustand er wohl nach Hause kommt. Die Sorge, ob ihm das Essen auch mundet oder sonst irgendwas nicht zur Zufriedenheit ist. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, Sixten. Ich habe etwa ein Jahr lang auf die richtige Gelegenheit gewartet. Ich wollte sicher sein, dass er mich nicht einfach zurückholen konnte.

Vielleicht erinnerst du dich, dass vergangenes Jahr eine Schildmaid bei uns im Dorfe war und über einen gewaltigen Reisetrupp, der unten an der steinernen Straße, welche den Tandolübergang mit der alten Hauptstadt Stromgarde verbindet, unterwegs war, berichtet hatte? Davon hatte ich gehört, und auch, dass er nach dem Ende der Wollmesse auf Hohenwacht - wo immer dies liegen mag - auf dem gleichen Wege zurückkehren würde.

Fast hätte ich es nicht geschafft, ich stolperte am Abend bevor ich fortgehen wollte mit dem Essen, du kannst dir vorstellen, wie die Strafe ausgefallen ist. Ich bin sofort los, als Papa aus dem Haus mit all meinen gesparten Münzen verschwunden war. Ich wollte nicht warten, bis ich nicht liegen, nicht stehen, mich kaum regen konnte. Ich bin sofort gegangen. Die ganze Nacht durch. Und am nächsten Morgen - wäre ich da erst losgegangen, hätte ich die reisenden Händler verpasst - hat mich tatsächlich jemand von dieser Reisegruppe auf seinem Wagen mitgenommen, bis nach Sturmwind. Stell dir vor, in die riesige Stadt!

Es ist ein Straßengewirr, ein stinkender, vor Menschen überquellender Moloch. Nun und auch andere Völker laufen dort herum. Stell dir vor, ich habe Draenei kennengelernt. Und sogar ein paar Pandaren, von Elfen, Zwergen und Gnomen ganz zu schweigen! Aber zurück zu mir. Die Stadt war nichts für mich. Ich habe in dem angrenzenden, grünen Landstrich, dem Korngürtel Azeroths, Elwynn genannt, bei Bauernhöfen gefragt, bis ich einen gefunden habe, der mich genommen hat.

Bis zum hohen Mittag habe ich jeden Tag dort gearbeitet, die restliche Zeit habe ich mit meinen Fallen und meinem Bogen das kleine Wild gejagt, das nicht unter Wilderei fällt, wie du es mir beigebracht hast. So lebte ich recht gut, war fast Teil der Familie und hatte eine eigene, wenn auch schmale Kammer für mich.

Aber diesen Sommer hatte ich von einem Fest im angrenzenden Rotkamm gehört, nicht allzuweit fort. Dort sollte es ein Bogenschützenturnier geben und - du wirst lachen - ich hatte mir doch tatsächlich Chancen dabei ausgerechnet. Der Hauptpreis bestand in einem wundervoll gearbeiteten Bogen. Den wollte ich doch nur zu gern erringen. Und so nahm ich mir eine Auszeit von meinem Bauern, dem ich versprach, auf jeden Fall zur Erntezeit zurück zu sein - in dieser Zeit half ich auch im Jahr zuvor von Morgens bis Abends.

So wanderte ich nach Kreuzlingen - so heißt der Ort - und feierte einige Tage lang das dortige Sonnenwendfest mit. Ich kaufte ein paar Lose, ich wettete bei einem Faustkampf, der im Keller stattfand - und hatte kein Glück dabei. Und ich nahm an dem Schützenturnier teil. Doch war ich so aufgeregt, ich schied schon in der ersten Runde aus. Was für eine Blamage!

Das wichtigste allerdings war ein mehrstündiges Gespräch mit einer Dame tief in eine der Nächte hinein. Sie war die Freifrau der Baronie, die das Fest veranstaltete. Ich fragte sie nach den genauen Begebenheiten des Jagdrechts, was unter Wilderei fallen würde und was nicht, in der Hoffnung, vielleicht in Zukunft auch an etwas größre Pelze zu kommen. Ich erzählte auch von mir, wie du mir das Bogenschießen, Fallenstellen, das Jagen und Tierspuren lesen, das Aufspüren und sich leise im Wald bewegen beigebracht hattest. Und dass ich schon viele Jahre unseren Haushalt geführt hatte. Es war ein unbeschwertes, zielloses Gespräch. Ich hatte, außer diese Information zu erhalten, keinen anderen Antrieb. Es fühlte sich gut an, mit dieser Dame zu sprechen, die anders als ich mir Adlige vorgestellt hatte, keineswegs von oben herab mit mir sprach. Es war eher warmherzig und vergnüglich.

Und doch kam etwas dabei heraus. Du wirst es kaum glauben, auch ich kann es immer noch kaum fassen, aber ich habe eine Jagdpacht in ihrer Baronie erhalten! Ich! Ich habe ein kleine Jagdhütte und ein recht großes Gebiet, teils mit Wald, teils mit offenen Feldern. Ich bin zuständig dafür, das Wild zu zählen, mir über seinen Zustand Gewissheit zu verschaffen und gewisse Kontingente darf ich auch schießen. Ich arbeite mit einem Jagdaufseher zusammen.

An ganz große Tiere habe ich mich noch nicht herangewagt mit meinem kleinen Bogen. Aber zum Geburtstag hat mir eben jene Dame, Freifrau Eleona von Wolfenberg, einen Langbogen geschenkt. Eine Kostbarkeit, ich übe jeden Tag damit, brauche aber noch mehr Kraft in den Armen, um ihn Dauerhaft den ganzen Tag ebenso problemlos handhaben zu können, wie meinen eigenen Bogen.

Fast hätte ich all mein Glück verloren, als ich unverhofft gefragt wurde, wie alt ich denn sei. Alle waren ziemlich geschockt, das war noch vor meinem 16. Geburtstag. Und dennoch habe ich die Jagdpacht behalten, das Vertrauen der Freiherren in mich muss groß sein und ich werde alles tun, es nie zu enttäuschen. Dafür bin ich jetzt ein Mündel, das Mündel dieser adligen Familie. Bis zu meinem 21. Geburtstag werden die Herrschaften von Wolfenberg gewisse Entscheidungen in meinem Leben fällen. Darauf habe ich mich eingelassen, im Gegenzug bleibt mir, mein Leben zu gestalten, eigenes Geld zu verdienen, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich gehöre nun zur Baronie Nebelwald. Jeder der versucht, mich hier wegzuholen oder mir böses will, wird es mit einer Reihe von Gardisten zu tun bekommen. Solltest du Vater von meinem Brief erzählen, halte ihn bloß davon ab, mich zurückholen zu wollen. Das könnte übel ausgehen.

Dazu habe ich eine Lehre begonnen, auch wenn der Lehrvertrag wohl noch nicht unter Dach und Fach ist. Du bist nicht ganz unschuldig daran, denn - halt dich fest - ich werde den Bogenbau erlernen! Also noch mehr als das, was du mir gezeigt hast. Dazu noch andere nützliche Dinge, wie das Fährtenlesen, wobei ich im praktischen Einsatz schon jemandem über die Schulter schauen und lernen durfte. Und laufen muss ich, jeden Morgen fünf Kilometer mit Gewichten an Armen und Beinen! Ich sitze hier noch im eigenen Saft schmorend, bin gerade von einem solchen Lauf zurückgekehrt.

Es soll eine Schule in Kreuzlingen gebaut werden und auch ich soll Unterricht bekommen! In verschiedensten Fächern, aber gerade interessiert mich am meisten, wie man mit sogenannten Bruchzahlen arbeitet, die Dinge die eine Hälfte, zwei Drittel, ein Viertel und so weiter darstellen. Der zukünftige Lehrer, ein Herr Konogar Luchszam, hat mir nämlich einmal ziemlich viel über diese komischen Bruchzahlen erzählt.

Es gibt soooo viel zu berichten! Nächstes Jahr werde ich vermutlich mit vielen anderen zusammen nach Uldum reisen. Vermutlich hast du davon genausowenig gehört wie ich zuvor: Es ist ein Wüstenland auf Kalimdor gelegen.

Auch eine weitere Sache muss ich dir berichten. Oder gestehen? Ich bin selbst manchmal noch sehr überrascht davon. Die Liebe ist in mein Leben getreten. Zweimal sogar bereits. Zuerst hatte ich mich in den Herrn verliebt, der mich auf der Reise aus der Heimat nach Sturmwind mitgenommen und kuriert hatte. Du kannst dir vorstellen, wie meine Kehrseite aussah, nach der durchwanderten Nacht und den teils blutigen Spuren des Riemens...

Er war kultiviert, gebildet, herzlich, elegant, gutaussehend, es war einfach ein Traum, dass er sich für mich, das einfache Bauernmädel aus dem Arathihochland, interessierte! Er war Apotheker und Medikus und hat in Sturmwind ein großes Stadthaus in bester Lage. Doch Anfang dieses Jahres fand ich dann heraus, dass ich nur eine von vielen war, nur eine unwichtige Gespielin. Und ich hatte es für "die große Liebe" gehalten, ich naives Ding. Seinen Namen schreibe ich dir nicht, ich weiß, dir würde sonst die Hand jucken, solltest du jemals nach Sturmwind kommen.

Doch in Kreuzlingen habe ich jemanden viel besseren kennen gelernt. Und später auch lieben. Nur wird es dir vielleicht nicht gefallen zu hören, was auch mich immer noch fast genauso verwundert, wie all mein Glück hier im Rotkamm: Meine große Liebe ist eine Frau. Was auch immer du davon halten magst, wird deine Wut, Entrüstung, Enttäuschung oder was auch immer hoffentlich verraucht sein, bis wir uns wiedersehen. Glaub mir, Lina ist wundervoll. Sie lebt ebenfalls hier im Tannengrund und züchtet Bienen hier. Lina möchte zum Vasallen werden und das ganze Gebiet um den Tannengrund herum eigenständig verwalten. Dazu wird sie in den Dienstadel erhoben werden.

Dies ist etwas, das ich mit gemischten Gefühlen sehe. Natürlich freue ich mich für sie, sie war früher schon einmal in einem untergegangenen Reich von Adel, auch wenn sie sich nichts daraus macht. Aber sollten wir heiraten - du siehst, wie ernst es ist - würde auch ich adelig. Das fühlt sich so falsch an. Ich lerne zwar einige Dinge hier, aber ich bin ein Kind aus den Bergen, aus Wald und Fels. Ich bin glücklich, wie es jetzt ist. Als Jagdpächterin bin ich schon viel weiter gekommen, als ich es für möglich gehalten hätte. Aber ich will nicht jammern, wo es mir so gut geht. Trotzdem macht mir die Vorstellung, als Lady angesprochen zu werden, Angst. Das wäre doch nicht ich. Es wäre mit nichts verdient. Jeder würde genau das denken. Menschen, mit denen ich von gleich zu gleich verkehre, müssten mich plötzlich anders behandeln. Das will ich alles nicht.

Aber was schreibe ich hier nur... bestimmt schüttelst du mit dem Kopf beim Lesen. Sei dir sicher, ich bin immer noch ich, deine kleine Schwester, die mit dir zusammen tagein tagaus durch Wald und Flur, Berg und Tal gestriffen ist. Ich trage dich in meinem Herzen bei mir, Sixten, wo ich auch bin.

Bitte Grüß dein liebes Eheweib Lilly ganz herzlich von mir. Und auch meine alte Nachbarin Stella Andersson. Ob du Vater etwas sagst, überlasse ich deiner Einschätzung. Sorgen wird er sich in den nüchternen Zeiten gewiss ebenso um mich machen. Ich weiß, er liebt mich trotz allem.


Deine Schwester Aliisa.


Aliisa streckte sich, schüttelte die verkrampfte Schreibhand aus und ging nun endlich zur Waschschüssel. Anschließend wäre es Zeit für das gemeinsame Frühstück in großer Runde. Sie freute sich schon darauf. Später würde sie irgendwo in Sturmwind sicher einen Boten finden, der den Brief an Sixten mitnähme.


Post ins Hochland[]

Sixten stand hoch oben auf der Leiter, die Lilly mit Stiefel und Fäusten an Ort und Platz hielt, um die Regenrinne vor dem Winter zu reinigen, als der Bote ankam. Ein Brief war eine Seltenheit, mit den allermeisten Menschen, die Sixten kannte, konnte er von Angesicht zu Angesicht reden. So saßen Lilly und er zunächst einmal eine Weile mit dem Boten zusammen in der Küche und unterhielten sich.

Als der Bote sich gestärkt wieder auf den Weg gemacht hatte, besah sich Sixten noch einmal den Umschlag. Er sah abgegriffen aus, als sei er auf seinem Weg hierher durch viele Hände gegangen. Sixtens Name stand unverkennbar in Blockbuchstaben darauf, dazu der Name seines Hofes wie auch des Dorfes. Darunter stand 'Aratihochland'. Wer um alles in der Welt sollte ihm von noch weiter weg einen Brief schreiben? Er drehte und wendete das Schreiben. Ein Absender war nicht zu sehen. Dafür klebten auf der Vorderseite manch seltsame Marke und verschiedene Stempel waren zu sehen.

Sixten zuckte mit den Schultern und wollte aufstehen, als Lilly, die hinter ihm stand, ihn wieder runterdrückte. "Was hast du denn jetzt vor?" fragte sie, in nicht eben versöhnlichem Ton. "Die Regenrinnen reinigen sich nicht von alleine, will ich meinen." erwiderte er gelassen und versuchte sich erneut zu erheben. Lilly schnaubte und drückte ihn wieder auf den Stuhl, die Hände auf seinen Schultern, und sagte: "Sixten Magnusson, du öffnest jetzt sofort diesen Brief!" Ihre Brust hob und senkte sich. Auf den Ansatz eines Einwandes folgte ein wütendes "Die Regenrinne ist mir gerade scheißegal! Mach den Brief auf, verflixter Sturschädel!"

Sixten brummelte irgendwas über Sturschädel und wer denn wohl einer sei, aber streiten wollte er darüber auch nicht. Immerhin meinte er noch etwas lauter: "Wenn es nachher regnet, machst du oben die Rinnen sauber, Weib!" Lilly zuckte mit den Schulter. "Ja ja." Sie blickte mit Argusaugen auf den Brief. Woher mochte er kommen? Hatte Sixten womöglich eine Liebste? Doch dazu hatte er doch gar keine Zeit! War ein entfernter Verwandter gestorben? Doch sie wusste von keinem. Oder.. sie mochte den Gedanken nicht zu Ende denken. Sie verschränkte ihre nervösen Finger ineinander, während Sixten mit seinem Messer ruhig und behutsam den Umschlag aufschlitzte, etwas umständlich die Pergamentbögen herauszog und entfaltete. "Nun mach schon!" bat ihn seine Ehefrau eindringlich.

'Lieber Sixten' stand oben als allererstes und Lilly schnaubte. Sie hatte eigentlich gar keinen Anlass, eifersüchtig zu sein und Sixten gar keine Zeit, irgendwas mit einer anderen anzufangen. Und doch... oder sollte es wirklich...? Sixten las ersteinmal nicht weiter als die Anrede. Er wirkte merklich aufgeregter und sah auf das Ende des Briefes. Da stand es, eindeutig: 'Deine Schwester Aliisa'. Sixten biss sich auf die Unterlippe und blinzelte. Jetzt nur nicht vor dem eigenen Weib heulen. "Von wem ist er?" fragte Lilly aufgeregt, die noch schlechter lesen konnte, als ihr Mann. Sixten schluckte und versuchte sich nichts anmerken zu lassen, als er "von Aliisa" sagte, als bekäme er jede Woche einen Brief von ihr.

"Den Ahnen sei dank!" entfuhr es Lilly. Das war gleich ein doppelter Grund zur Freude. Es gab keine heimliche Geliebte und der seit langem über ihnen liegende Schatten der Unsicherheit, was mit Sixtens kleiner Schwester geschehen war, würde nun fortziehen. Auch wenn Lilly wusste, dass Sixten seinen Vater inzwischen nicht mehr verdächtigte, das Mädchen getötet zu haben, hatte ihre ungewisse Abwesenheit immer wie eine Nebelbank über der Stimmung im Haus geschwebt. Nun wusste man wenigstens, dass sie am Leben war. Lilly ließ Sixten in Ruhe lesen. Dieser schnaubte und brummte immer mal hier und da, einmal hieb er wütend mit der Faust auf den Tisch, dass die Brotdose einen Satz machte. "Wenn ich diesen Knilch in die Finger bekomme..." murmelte er wütend, las aber weiter.

Als Sixten fertig war und Lilly nun auf die Zusammenfassung hoffte, strich ihr Mann die Seiten zunächst sorgfältig und umständlich glatt und las dann Aliisas Brief erneut, Zeile für Zeile, Wort für Wort. Aliisas krakelige Schrift und die wenig geübten Lesekünste Sixtens ließen darüber einige Zeit vergehen. Dieses Mal schnaufte er nur wütend an einer Stelle. Er war ja vorgewarnt.

"Nun sag schon, was schriebt sie, wo steckt sie, wann kommt sie zurück?" fragte Lilly aufgeregt. Sixten brummte. "Also ..." begann er. Lilly seufzte und setzte sich auf den Stuhl neben Sixten. Ihr Mann konnte manchmal sehr schnell sein, besonders wenn er wütend war. Doch mit Worten war er es weniger. Geduldig sah sie ihn an, harrend der Dinge, die er ihr sagen würde.

"Das schamlose Ding ist tatsächlich weggelaufen! Und das gleich bis hinter Sturmwind!" "Sturmwind? Bist zu sicher?" kam es jappsend zurück. Die große neue Hauptstadt war irgendwo, unvorstellbar weit weg im Süden. Fremdlinge hausten da. Sixten brummte. "Naja, ich kann sie ja verstehen, wie es zu Haus zuging..." brummelt er. "Trotzdem, dem Vater und uns so einen Schrecken zu verpassen." Lilly sah ihn an, das waren ungewohnte Töne, bisher hatte er Aliisa immer in Schutz genommen. "Dann überleg mal, wie es auf dem Mühlenhof heute aussehen würde, wenn sie nicht gegangen wäre. Für deinen Vater war es ein Segen!"

Sixten sah Lilly einen Moment an, bevor er mit zusammengezogenen Brauen nickte. "Ja, und ... sie hat die Schläge nicht mehr ausgehalten. Sie ist mit Händlern bis nach Sturmwind mitgereist. Ich will gar nicht wissen, wie sie das bezahlt hat." Lillys Hand war so schnell, dass Sixten die Ohrfeige nicht hatte kommen sehen. Natürlich ließ er nicht nichts anmerken, auch wenn die Haut sichtlich rot wurde. "Sixten Magnusson, ich sollte dir den Mund mit Kernseife auswachen. Geschuftet wird sie haben für die Mitfahrt! Was denkst du von deiner Schwester? Bei den Ahnen, du solltest dich schämen, aber sowas von!"

Sixten zog den Kopf ein. Er gab ihr ja im Stillen Recht. Trotzdem sprach er äußerlich von dem Donnerwetter unbeeindruckt weiter: "Sie mochte die Stadt nicht - kein Wunder, wenn du mich fragst - und hat bei einem Bauern gearbeitet." Lilly nickte. Das konnte sie sich gut vorstellen. Da wäre ihre Schwägerin bestimmt eine tatkräftige Hilfe, immerhin hatte sie schon lange für sich und den Vater gekocht und gewirtschaftet.

"Aber das ist noch nicht alles. Stell dir vor, mein kleines Schwesterchen, ist heute eine Jagdpächterin!" seine Stimme wurde weicher. Er dachte an die junge Aliisa, mit der er Tag für Tag im Wald gewesen war. Wie gelehrig das stille Mädchen gewesen war, wie interessiert an allem. Sie schien alles in sich aufzusaugen, was sie von den trüben Gedanken an Lykke ablenken konnte. "Das verdankt sie dir, Sixten." Sixten nickte. Das stimmte. Und er war heilfroh darum, dass er ihr etwas hatte beibringen können, mit dem die Kleine jetzt ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Wie hatte er nur denken können, sie hätte leichtfertig ihren Körper angeboten?

"Sie hätte mir ruhig mehr Ehre machen können..." murmelte er. "Ehre? Wobei?" fragte Lilly irritiert. "Ach, sie hat an einem Bogenschützenturnier teilgenommen und ist gleich in der ersten Runde ausgeschieden, weil sie so aufgeregt war." Er lachte leise. "Dabei können diese ganzen Südländer ihr doch nichtmal das Wasser reichen!"

Über die hinteren Teile des Briefs sprach er nicht. Das musste er ersteinmal mit sich selbst ausmachen. Dass da irgendwas gewesen sein musste, das ihren Mann auf die Palme gebracht hatte, war Lilly auch klar, aber sie drängt ihn nicht. Sie musste auch nicht alles zwischen Bruder und Schwester wissen. Und bestimmt würde Sixten mit ihr reden, wenn er so weit wäre.

"Na dann werd ich mal ... die Regenrinnen machen sich nicht von alleine." meinte sie leichthin und trat hinaus in die Tenne. Sixten starrte auf die letzten Absätze des Briefes. Zu gern würde er diesen Apotheker einmal in die Finger bekommen. Und dieses Weib dazu, das seiner kleinen Schwester jetzt gerade wohl den Kopf verdrehte. Wer hatte Aliisa diese Flausen in den Kopf gesetzt? Diese südländische Marotte? Er schlug erneut mit der Faust auf den Tisch. Für seine kleine Schwester war eigentlich sowieso niemand gut genug! Und ein Weibsbild schon erst gar nicht!

Wütend eilte er hinaus, seinem Weibe nach, doch die war schon auf die Leiter geklettert. "Ja willst du dir denn den Hals brechen, Lilly?" fragte er, packte die Leiter mit beiden Händen und hielt sie fest, während Lilly hoch oben altes Laub und kleine Ästchen aus der Rinne kratzte und auf den Boden fallen ließ. Sixten brummelte unten vor sich hin. Nicht nur die Liebesdinge seiner Schwester - die war gefühlsmäßig für ihn eigentlich noch ein Kind und hatte sich um andere Dinge zu kümmern! - regten ihn auf. "Sie ist mit ihrer wunden Kehrseite den ganzen Weg bis runter zur Steinstraße gelaufen." er schüttelt den Kopf. "Wenns nicht so wäre, wie's gekommen ist, würd ich den Vater dafür selbst übers Knie legen..." brummelte Sixten leise vor sich hin. Wie weh das tat, sich damit auch nur zu bewegen, nachdem sein Vater ihm das Fell gegerbt hatte, wusste er nur zu gut aus eigener Erfahrung. "Ach ich soll dich übrigens grüßen." rief er lauter hinauf. "Mmmh. Danke." kam es emsig beschäftigt von oben.


Der Sturz in die Tiefe[]

Nach langem hin und her hatte sich doch tatsächlich fast die ganze Gruppe aus ihrem Lager am Fluss aufgemacht, Konogar in die Ruinen zu begleiten. Zuerst hatte der angehende Archäologe nur maximal zehn Leute mitnehmen wollen, doch das hatte zu einem gewissen Unmut und langen Diskussionen geführt. Immerhin hatte er Aliisa ausgewählt, ihn zu begleiten. Aber letztlich waren alle dabei, bis auf die Köchin und eine Draenei.

Nachdem sie eine Weile zu Fuß -was Aliisa nach wie vor wirklich die liebste Fortbewegungsart war - durch den Dschungel marschiert waren, blieb die Truppe plötzlich stehen. Aliisa schob weiter nach vorn durch, um zu schauen, weshalb. Vor ihnen breitete sich ein Stück tiefer ein Talboden aus. Es war seit geraumer Zeit schon verdächtig still gewesen, die anfangs manigfaltigen Laute des Urwaldes waren nach und nach verstummt, was der kleinen Jägerin nicht entgangen war. Hier lastete die Stille nun geradezu drückend über allen und so gut wie jedem schien dies auch aufzufallen. Eigentlich hatte dort unten Konogars Professor auf sie warten sollen, wie sie nun von Kono erfuhren. Doch statt dessen war nur ein halb in einem tiefen Loch steckender Wagen zu sehen.

Zwei Leute gingen nach unten, sich umzuschauen. Miss Piers rief Aliisa zu sich. Gemeinsam knieten sie sich auf den Rand eines der Hügel und gaben den beiden Spähern Deckung. Aliisa hatte einen Pfeil in die Sehne eingelegt und hielt den Bogen bereit, um eventuell auftauchende Feinde beschießen zu können, ihre Ausbilderin hielt eine Flinte in Händen.

Der Boden erzitterte. Erst schwach, dann plötzlich so stark, dass kleine Bröckchen von den umliegenden Hügelkuppen zu Tal polterten. Auch Miss Piers verlor den Halt und stürzte herunter. Aliisa teilte ihr Schicksal erfreulicher Weise nicht, doch eilte sie ihr nach. Zum Glück hatte sich Miss Piers weder den Hals gebrochen, noch sonst etwas schlimmes getan.

Einige untersuchten das seltsam tiefe Loch, in dem der Wagen steckte und mit einem Mal fielen Teile des Randes nach unten in eine unbekannte Tiefe. Aliisa sagte gerade noch, man solle sich zurückziehen, bevor mehr einstürzen würden, doch bevor dies in die Tat umgesetzt werden konnte, erschütterte ein neues, heftigeres Beben den Grund des Tales, der Talboden wurde instabil, immer größere Teile verschwanden einfach vor ihren Augen und die meisten, die unnütz inzwischen zahlreich hier unten standen, stürzten mit in die Tiefe.

Aliisa schrie erschrocken auf, als der Grund unter ihren Füßen nachgab, ihre Hände keinen festen Halt fanden und sie zusammen mit Gesteinsbrocken, Grasnarbe und allem Möglichen fiel und fiel. Es kam ihr furchtbar lang vor, auch wenn es sich wohl nur um Sekunden gehandelt haben konnte. Plötzlich schlug sie auf etwas auf, die Füße voraus. Es war Wasser! Eiskalt und hart durch die Höhe ihres Sturzes. Aliisa konnte durchaus schwimmen. Aber nicht im finstern in eiskaltem Wasser mit der schweren Kettenrüstung am Leib. Sie trat mit den Beinen, ruderte mit den Armen, und sank doch erbarmungslos in die Tiefe. Zurück blieben ihr hölzerner Bogen, die Pfeile, und die zur bewegten Oberfläche aufsteigenden Luftblasen.

Sie kämpfte gegen die Panik, gegen den Drang, zu atmen, und mit ihrer verflixten Rüstung. Gürtel und die Haken und Ösen, die ihre Hose hielten, waren schnell geöffnet. Als nächstes, bevor sie sich von Stiefeln und Hose endgültig trennte, was wohl geschickter gewesen wäre - aber für logisches Denken war hier wenig Zeit - fummelte sie krampfhaft an den Schnallen ihres Harnischs, an den Seiten des Leibes. Der Wappenrock erwies sich dabei als äußerst hinderlich!

Ihre Lunge brannte, die Panik loderte in ihr. Bevor sie es schaffte, sich von Brustrüstung, Stiefeln und Hose zu trennen und nach oben zu schießen, zur heiß ersehnten Luft über der Wasseroberfläche, wurde sie gepackt. Bei dieser überraschenden Berührung schluckte sie versehentlich Wasser und schlug panisch um sich. Dennoch zog ihr Retter, der Worgen Abbas, der schon ihren Bogen und alle Pfeile, die er auf die schnelle hatte packen können, bei sich hatte und den Luftblasen gefolgt war, die Aliisas Position tief unten im Wasser verraten hatte, das Mädchen kraftvoll zur Oberfläche hinauf. Er redete ihr dort zu, dennoch bekam er einen Schlag an den Hals von ihren, für ihre Rettung nicht gerade förderliche, panischen Fuchteleien.

Abbas brachte Aliisa an Land, denn in der Mitte erhob sich eine felsige Insel. Oder eher eine Halbinsel, wie sich später zeigen sollte. Doch zunächst einmal war sie damit beschäftigt, Wasser zu spucken. Aliisa sah Sterne, ihre Ohren dröhnten. Nachdem sie sich gesammelt hatte - sie war triefnass, ihre Stimme rau - und dem nassen, überraschten Worgen, dankbar um den Hals gefallen war und ihren Dank ausgemurmelt hatte, richtete sie ihre widerspenstige Rüstung, denn die Hose hing ihr in den Kniekehlen und die Brustrüstung war an einer Seite bis auf eine Schnalle offen - sie hatte es also fast geschafft, sich zu befreien. Gut, den blöden Wappenrock hätte sie irgendwie noch loswerden müssen, der jetzt nass und schlaff an ihr klebte.

Es war bitter kalt hier unten. Die ganze Truppe war durchnässt. Sia wärmte Aliisa ein bisschen in einer Umarmung. Andere kümmerten sich um eine Frau, die wohl noch mehr Wasser geschluckt hatte als Aliisa, Anna hieß sie. Es gab einen völlig unnützen Streit um Kompetenzen und wer wohl Konogars Liebling sei, der Aliisa die Augen verdrehen ließ. Anstatt zuzusehen, wie man hier rauskam, debattierte man über soetwas!

Das Höhlensystem erwies sich als ziemlich groß. Tiefer eingedrungen sahen sie eine komische, getarnte Erscheinung, aus der sie sich keinen reim machen konnte. Letztlich opferte sich eine ihrer Mitstreiterinnen, damit die anderen fliehen und an Seilen hinaufgezogen werden konnten. So wurde auch Aliisa zusammen mit Konogar in die Höhe gezogen.

Aber auch Vergi, oder wie sie genau hieß, die das was-auch-immer-es-war in der Höhle abgelenkt hatte, hatte es zuletzt zu den Seilen geschafft! Es war kaum zu glauben, dass am Ende alle zitternd oben auf den Hügeln über dem verschwundenen Tal saßen und am Leben waren.

Der Abend hatte aber noch eine weitere Überraschung auf Lager: Lina steckte Aliisa einen Ring an den Finger und sie konnte zu ihrer Frage nach den überstandenen Ängsten nur noch 'ja' sagen. Umgezogen, getrocknet am warmen Feuer zurück in ihrem Lager klang der Abend aus.


Vorbereitungen für das Erntedankfest[]

Aliisa stand in ihrer Jagdhütte und betrachtete das an der Wand auf einem Bügel hängende Kleid. Es hatte die Farbe reifer Ähren und sollte ihr als Basis für die Gewandung dienen, mit der sie am kommenden Sonntag zur Wahl zur Erntedankkönigin antreten würde. Nicht, dass sie eine Chance hätte, nachdem sich die bekannte Sängerin Miss Morello ebenfalls als Kandidatin gemeldet hatte, doch wollte sie es dieser - und den anderen Teilnehmerinnen - so schwer wie möglich machen. Außerdem galt ja wie immer auf den Veranstaltungen auf den Märkten: Dabei sein ist alles.

Auf dem Tisch lagen heute keine Felle, sondern stattdessen mehrere Büschel langer Ähren samt Körnern und Grannen. Aliisa setzte sich. Das würde sicher mühselig werden, doch wenn sie am Sonntag ein schönes Kostüm tragen wollte, musste sie eben auch einiges an Arbeit dafür aufwenden. Sorgsam wurden die Ähren zu Kränzen und Büscheln verflochten und später mit behutsamen Stichen am Kleid befestigt. So schmückten die Kränze ihre Arme, und mehrere Büschel von Ähren den Hauptteil des Kleides. Den Kranz für ihre Haare würde sie am Sonntag Vormittag frisch anfertigen, aber auch dafür übte sie schon jetzt und probierte dies und das aus. Das Grundgerüst stand schließlich, aber die Blumen dafür mussten natürlich frisch sein.


Die Liste der fünf Kandidatinnen stand inzwischen fest: Ihre Ausbilderin Courtney Piers, die Verzauberkünstlerin Olivia Bates, eine Miss Avaliar Summertales, eben jene Sängerin Esmelia Morello und sie selbst. Lina hatte schon geargwöhnt, auf die Kandidatinnen aus der Baronie würden sich die Stimmen aus der Baronie verteilen und letztlich würde die Kandidatin von außerhalb gewinnen, die die meisten Freunde mitbrachte. Aliisa hoffte, dass die Leute anders wählen würden, nämlich nach dem Kostüm, der Erscheinung, dem Auftreten und dem Umgang mit den gestellten Aufgaben. Aber vielleicht war das ja auch naiv von ihr, so zu denken. Während ihre Hände fleißig Ähren banden, glitten ihre Gedanken dahin. Immerhin war sie selbst im August auf ihrem alten Hof in Elwynn im Schweiße ihres Angesichts an der Ernte beteiligt gewesen. Das war doch eine gute Basis, um eine Erntekönigin zu werden, oder?

Eine der möglichen Aufgaben bestand darin, ein passendes Lied zu singen. Darüber hatte sie sich schon mehrfach Gedanken gemacht und manchmal Abends für sich das eine oder andere Lied gesungen. Gerade bei dieser Aufgabe würde sie Miss Morello nicht das Wasser reichen können, aber auch dabei wollte sie natürlich nicht patzen. Aliisa hatte eine durchaus angenehme Stimme, doch war sie nicht ausgebildet. Zuletzt viel gesungen hatte sie während der Ernte. Sie lächelte, als sie daran zurück dachte. Das Binden der Garben war ihnen beim Singen doch wesentlich besser von der Hand gegangen. Auch wenn sie heilfroh war, hier im Tannengrund gelandet zu sein, hatte sie es das Jahr in Elwynn auch nicht schlecht gehabt. Die Familie hatte sie in ihre Gemeinschaft aufgenommen und bei der Ernte und auf dem anschließenden kleinen Fest hatte sie sich ganz dazugehörig gefühlt. Und das obwohl alle wussten, dass Aliisa danach den Hof verlassen würde.

Ihre Gedanken kehrten zu ihren Mitkandidatinnen zurück. Über Miss Summertales wusste sie nichts. Vielleicht würde sie sie wiedererkennen, wenn sie sie zu Gesicht bekäme, doch der Name sagte ihr nichts. So war diese ein unbekannter Faktor. Olivia mochte und schätzte Aliisa. Die junge Frau, die sich gerade in einem Ladengeschäft in Kreuzlingen niedergelassen hatte, wäre sicher auch eine gute Erntekönigin. Wie die doch meist eher ruppige und wenig zarte Miss Piers, ihre kämpferische Ausbilderin, sich wohl präsentieren würde? Darauf war Aliisa wirklich gespannt! Miss Morello hatte sie in der Nacht der blauen Blume gerade erst auftreten sehen. Nach wie vor vermutete Aliisa in dieser die zukünftige Erntekönigin. Lieber wäre es ihr, wenn es eine aus der Baronie wäre, am allerliebsten sie selbst! Wie schön wäre es doch, als Erntekönigin den Viehmarkt eröffnen zu dürfen!

Wenn es dieses Jahr nicht klappte, vielleicht nächstes Jahr? Bis dahin würde sie, wenn Miss Piers sie weiterhin so herum scheuchte, etwas an Molligkeit verlieren. Wobei das doch eigentlich zu den reichen Gaben der Erntezeit ganz gut passte, oder nicht? Immerhin gingen ihr die morgendlichen Kilometer inzwischen leichter von der Hand - oder eher vom Fuß. Das Lied "Hoch auf dem gelben Wagen" summend, begann sie damit, ihr Kleid zu schmücken.


Der Archäologie-Aushang[]

Aliisa steht vor einem Aushang, den sie fast halb verdeckt unter einem anderen übersehen hätte:

Seid gegrüßt!

Das Gebiet der Archäologie und Geschichtsforschung ist breit gefächert, bietet viele interessante Schauplätze und doch mangelt es an neuen Studenten/Lehrlingen. Dem möchte ich, Konogar Luchszam, versuchen entgegenzutreten und biete hiermit unter meiner Feder eine Lehre im Fachgebiet der Archäologie an in Zusammenarbeit mit meinem früheren Studienstandort der Forscherliga in Eisenschmiede welche zeitgleich für verschiedene Prüfungen zuständig ist und diese abnimmt. Innerhalb der Lehre wird nicht nur der Umgang mit der Welt und Ruinen gelehrt, der Werkzeuge und das Zeichnen, sondern auch wie Ergebnisse verknüpft werden, auf ein Thema zu vertiefen, Recherchen zu führen und Karten anzufertigen. Viele weitere Inhalte würden leider nur den Rahmen des Aushangs sprengen.

Mit Abschluss der Lehre/des Studiums können Absolventen insbesondere beratende Tätigkeiten (Adel, Öffentlichkeit) aufnehmen oder selbst Expeditionen leiten, sind gefragte Ratgeber um Neutralität zwischen Völkern zu wahren und geübt in der Kommunikation. Die Archäologie ist eine Wissenschaft und als solche in erster Linie zur Neutralität verpflichtet.

Ein Aspirant/Interessent sollte auszugsweise folgende Eigenschaften mitbringen:

  • Neutralität gegenüber der Welt und ihrer Bewohner
  • Textverständnis und handwerkliches Geschick
  • Reisebereitschaft, Ausdauer und körperliche Kraft
  • Mindestalter von zwanzig Jahre

Es sind alle Völker für eine solche Lehre / Studium zugelassen und im Rahmen eines Bewerbungsgespräches können weitere Fragen gerne geklärt werden. Insbesondere möchte ich betonen, das auch Worgen die in jener Gestalt öfter als durchschnittlich unterwegs sind, ebenso angehalten werden, sich bei Interesse zu melden. Die Lehrstunden finden überwiegend in Eisenschmiede oder der Baronie Nebelwald statt. Der Weg zur Baronie findet sich in der Zeichnung weiter unten, skizzenhaft dargestellt.

Briefe gerne an mich in Richtung Baronie Nebelwald versenden, für allerhand Gespräche die es sicher zu führen gilt.


Hochachtungsvoll, Konogar Luchszam

Hofarchäologe der Baronie Nebelwald.

Neugierig, interessiert und aufmerksam liest die Jagdpächterin bis zur letzten mitzubringenden Eigenschaft. Aber "Mindestalter von zwanzig Jahren" entlockt ihr ein aufgebrachtes Schnaufen ob dieser Diskriminierung. Nicht dass sie noch die Zeit hätte, für eine zweite Ausbildung auf einmal. Aber trotzdem!

Offenbar suchte Kono eh eher einen weiteren Gilneer, der lieber in seiner verfluchten Form herumlief. Sicher, es mochte Vorteile haben beim Schnüffeln, beim Graben, aber trotzdem. Aliisa freute sich immer, wenn Konogar in seiner normalen Form zu sehen war, so wie neulich bei der Eröffnung der Schule. Dazu musste sie ihn eh noch sprechen. Irgendwie hatte sie bislang immer noch nicht eine einzige Unterrichtsstunde erhalten. Und dabei war sie ja nun wirklich schon lange hier.

Unschlüssig las sie noch ein zweites Mal den Aushang, um sich dann den anderen, neueren Zetteln zuzuwenden, die hier hingen.


Der Morgen nach der Bierverköstigung[]

Behutsam strich Aliisas Hand über den gelben Stoff. Das Kleid, in dem sie - zusammen mit Molly - zur Erntekönigin gewählt worden war, obwohl sie aus der Baronie zu dritt angetreten waren, hing an der Wand ihres Schlafzimmers, daneben die ganzen Büschel voller Ähren wie auch die Kränze, die sie im Haar und aber auch am Kleid getragen hatte, um die Arme und als Gürtel. Die Blumen ihres Kopfschmucks waren inzwischen natürlich vertrocknet, aber noch hatte sie sie nicht wegschmeißen mögen. Über dem Kleid, an zwei extra dafür in die Wand getriebenen Nägeln, hing das kleine Krönchen, das die Freifrau ihr aufgesetzt hatte.

Es war leer hier im großen Haus ohne Lina. Ihre Liebste weilte noch bei den Elfen in Darnassus. Hoffentlich lohnte sich die Reise wenigstens für Lina. Aliisa merkte jeden Tag mehr, wie sehr sie sich schon an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte. Wie sehr sie auf der einen Seite ihre mühsam erlernte und erkämpfte Unabhängigkeit eingebüßt hatte, aber auf der anderen Seite war sie reich beschenkt worden durch einen Menschen, der sie liebte, für den sie das wichtigste auf der Welt war. Das hatte es wohl in der Form noch nie gegeben. Natürlich hatten ihre Eltern sie geliebt, aber anders. Und für Merten war das naive, junge Ding aus den Bergen nur eine Gespielin, eine schöne Abwechslung gewesen. Sie schnaubte. Es focht sie immer noch an, dass sie so sehr auf diesen umtriebigen Apotheker hatte hereinfallen können, bei dem sie nur eine von vielen gewesen war. Geliebt hatte sie schon vorher, nämlich Merten, nur war es nie so erwidert worden.

Ihre Finger glitten geistesabwesend über den Stoff des Kleides. Es war aufregend gewesen, dort oben zu stehen, mit den erst drei, dann vier anderen Kandidatinnen. Alle hatten sich fein gemacht - bis auf die spontan für die abwesende Avaliar eingesprungene Swea. Jede der drei anderen, vorbereiteten Kandidatinnen hatte sich Mühe gemacht, wie sie selbst. Mühe mit ihrem Kostüm, und Mühe mit der Vorstellung. Sweas militärische Vorstellung hingegen war eher witzig gewesen. Ganz schön mutig, da so spontan mitzumachen! Nachdem alle sich vorgestellt und ihre Aufgabe angegangen waren, hätte Aliisa allen den Sieg gegönnt. Kaum zu glauben, wie knapp es ausgegangen war: Zwei erste Plätze mit der gleichen Anzahl an Äpfeln und in Olivias Korb war auch nur ein Apfel weniger gewesen. So hätten sie sich eigentlich die Krone dritteln müssen. Aber Stimme war wohl Stimme.

Überraschend, dass Molly ihr erst gesagt hatte, dass sie gar nicht gewinnen wolle, dann aber, als sie beide als Siegerinnen feststanden meinte, sie habe das doch ganz allein gewinnen wollen. Vielleicht stimmte beides? Aliisa wusste es nicht. Es war so oder so ein sehr aufregender Abend gewesen. Hinterher war sie recht früh schlafen gegangen, nachdem Molly und sie zusammen das Fass angeschlagen hatten. Etwas schade, dass die Erntekönigin (oder Königinnen) nichts weiter zu tun hatten, abgesehen von der Eröffnung des Viehmarktes.

Allisas Finger strichen über den fest geflochtenen Gürtel aus Ähren, den sie an dem Abend getragen hatte und ihre Gedanken wanderten weiter: Die Bierverköstigung gestern beim Orden hatte ihr gefallen, aber besonders angetan war sie von der Vereidigung der beiden neuen Ordensmitglieder am Abend davor gewesen. Es war schön, öfter mit dem Orden zu tun zu haben, hatte sie doch auf dem Sonnenwendmarkt zunächst mit Sanjia und der späteren Siegerin des Boxkampfturnies, der Elfe Pajyu, zu tun gehabt. Und mit Sir Jac, den, äh die sie damals noch für einen Mann gehalten hatte. Zum Glück waren ihre zarten Versuche, einander näher kennen zu lernen, an ihm - äh ihr - abgeprallt. Aliisa schüttelt belustigt den Kopf. Ironie der Geschichte, dass sie nun tatsächlich mit einer Frau zusammen war. Und Lina würde niemand versehentlich für einen Kerl halten. Aliisa grinste kurz und trat zur Tür, um sich noch von einem Regalbrett die vier Manschetten zu greifen. Ganz schön schwer waren die Mistdinger, ihre Ausbilderin, Miss Piers, hatte ihr neulich erst schwerere gegeben. Aber es half ja nichts. Weder das eklige nasskalte Nieselwetter noch das etwas seltsame Gefühl, das vom gestrigen Abend in ihrem Körper zurückgeblieben war, würden als Ausreden durchgehen. Also galt es fünf Kilometer zu laufen!

Aliisa lief die Treppe hinunter und sah sich um. Sie hatte am gestrigen Morgen - da hatte aber wenigstens mal die Sonne geschienen - eine schöne Strecke gefunden, die wohl gut fünf Kilometer lang sein mochte. Auch wenn sie gerade alles andere als begeistert war, setzte sie sich in Bewegung. Das Laufen tat ihr aber gut. Sie war gestern Abend tatsächlich das erste Mal in ihrem Leben beschwipst gewesen! Und das Bier, das nach ihrer Patin, der Freiherrin Eleona benannt war, hatte ihr irgendwann richtig gut geschmeckt. Lady Eleonas Worte hatten sie beruhigt: Sie hatte gesagt, dass sie alle hin und wieder alkoholische Getränke trinken würden, ohne deswegen gleich Trinker zu sein.

Die Aufnahme der beiden neuen Ordensmitglieder - zumindest hatte sie das so verstanden, wenn auch gestern Abend Pfyff eine andere Ansicht hatte - war sehr feierlich gewesen. Und ausgerechnet Undine, oder besser Sir Rageblade, war aufgenommen worden, die Frau, die beim Tauziehen auf dem Erntedankmarkt geholfen hatte und zu der sich Aliisa seitdem vorsichtig freundschaftlich - oder wenigstens sympathiemäßig - verbandelt fühlte. Es tropfte von den Bäumen, aber inzwischen war Aliisa das egal, ihr Körper dampfte und ihr war wahrlich warm genug, ganz egal, dass ihr die kleinen Tröpfchen ins Gesicht wehten und ihre Kleidung nass wurde, das wurde sie von innen eh. Und die großen, schweren Tropfen von den Bäumen störten sie auch nicht weiter.

Schön war es hier beim Sitz des Ordens ebenfalls, auch wenn sich das augenblicklich in dem trüben Licht und dem kurzen, neblig-nassen Sichtfeld nicht bestätigen ließ. Bier schmeckte ihr also plötzlich? Wie hatte das nur passieren können? Vermutlich würde sie trotzdem aufpassen müssen. Die Veranlagung zu unverhältnismäßigem Bier- und Schnapskonsum schien ja in der Familie zu liegen und Aliisa war alles andere als scharf darauf herauszufinden, welche Abgründe ihrer Seele sich dadurch offenbaren würden. Bei ihrem Vater war es das grundlose und harte Strafen seiner Kinder gewesen. Sie hatte Glück, dass von den vielen Schlägen, meist mit dem Gürtel, keine Spuren auf ihrer Haut zurückgeblieben waren. Anders sah es da schon mit ihrer Seele aus.

Neulich, als die Freifrau von Aufgabentrennung in Bezug auf Belohnen und Bestrafen gesprochen hatte, war ihr erst heiß und kalt geworden. Doch dann hatte sie sich klar gemacht, dass Lady Eleona sie niemals grundlos bestrafen würde. Und das war das Elend mit ihrem Vater gewesen. Sie konnte sich noch so engelsgleich benommen haben, er fand immer einen Grund, sie zu prügeln. Aliisa lief schneller. Sie rannte, dass nicht nur der Regen, sondern auch ihr Schweiß tropfte. Als müsste sie all diese Erinnerungen, diese Dämonen, aus sich herauspressen, sie ausschwitzen.

Zurück in ihrer Gastkammer schmerzten ihre Arme und Beine. Aliisa war deutlich mehr als die fünf Kilometer gelaufen und es war eine Wohltat, die Gewichte loszuwerden und Haut und Haare zu waschen. Am Ende wusch sie auch erst im restlichen Seifenwasser, dann im klaren Wasser die Kleidung durch, die sie zum Laufen getragen hatte, wrang sie aus und hängt sie auf eine mitgebrachte Schnur, die sich als improvisierte Leine quer durch den Raum zog. Hoffentlich würde das Zeug vor ihrer Rückreise in den Tannengrund noch halbwegs trocken werden.


Auf dem Viehmarkt[]

Aliisa schlenderte über den herbstlichen Viehmarkt. Auch am heutigen Vormittag war schon ein reges Treiben auszumachen, obwohl der eigentliche Andrang meist erst gegen Abend zustande kam. In den verschiedenen Gattern und abgezäunten Arealen tummelten sich all die zum Verkauf angebotenen Tiere: Fremdartige Yaks, sauber gebürstete Rinder, hell schimmernde Ziegen und Schafe sowie sich im Dreck suhlende Schweine. Es blökte und mähte, quiekte und broddelte. Hier sprang mal ein Tier weg und lief ein paar Meter, um dann doch langsam wieder zurückzukommen, dort schubberte sich eine ausgewachsene Sau an einem Pfahl, dass der ganze Zaun bedenklich schwankte.

Manch einer grüßte die junge Frau, die im Spätsommer erst sechzehn Jahre alt geworden war. Der gestrige Markttag war ganz schön aufregend gewesen und langsam wurde sie offenbar bekannt hier in der Baronie. Es war zwar nicht mal ein halbes Jahr her, dass sie sich das erste Mal hierher aufgemacht hatte, zum Sonnenwendmarkt, um den Preis des Bogenschützenturniers, einen professionellen, guten langen Bogen zu gewinnen und wieder nach Hause zu gehen. Oder besser gesagt dahin, was sie vorübergehend für ihr Zuhause gehalten hatte: Den Bauernhof in Elwynn, auf dem sie ein Jahr gelebt, gearbeitet, gefeiert, gefroren und geschwitzt hatte.

Aber es war anders gekommen, alles in Folge eines völlig planlosen, langen Gesprächs mit der Freifrau in einer der warmen, samtigen Nächte des Sommermarktes. Es war auch anders gekommen, als sie sich das in ihrer Naivität ausgemalt hatte: Beim Bogenschießen war sie so nervös gewesen, dass sie kläglich gleich in der ersten Runde ausgeschieden war. Sie lachte leise bei der Erinnerung daran.

Und letzte Woche in Sturmwind auf dem dortigen Turnier war es nicht besser gelaufen. Große Erfolge für die Baronie, aber Aliisa schied erneut in Runde eins aus. Sie hatte sich damit abgefunden gehabt, eine gute Jägerin zu sein, aber nicht vor anderen brillieren zu können. Das war in Ordnung. Inzwischen hatte sie auch einen schönen Bogen zum Geburtstag geschenkt bekommen, da war sie nicht mehr so hinter den Preisbögen her.

Und Aliisa hatte auf dem Erntedankmarkt viel Mühe in ihr Kostüm als Erntedankkönigin gesteckt und war doch tatsächlich zusammen mit der Sängerin Molli zur solchen gewählt geworden! Wer brauchte da noch Schützenturniere? Demzufolge hatte sie auch gestern Abend zusammen mit Lady Eleona von Wolfenberg, ihrer Freifrau und Vormund, den Viehmarkt eröffnet. Das war ganz schön aufregend gewesen, wieder da oben zu stehen und zu allen zu sprechen. Zum Glück hatte sie sich ihre Worte vorher zurechtgelegt.

Sie hatte erneut ihr Erntedankköniginnenkostüm getragen, diesmal allerdings mit zwei warmen, wolligen Unterröcken! Das half, trotz der bloßen, blumengeschmückten Füße, nicht zu sehr zu frieren. Und sie musste ja eh in Bewegung bleiben: Denn ob als Erntedankkönigin oder ob als Mündel, so genau wusste sie es nicht, war es auf diesem Markt ihre Aufgabe, sich um die Stände zu kümmern, die Händler zu begrüßen, sie zu ihrem Marktstand zu führen und gelegentlich bei ihnen vorbei zu schauen, um zu fragen, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei.

Vor der Eröffnung des Viehmarktes hatte ihre Ausbilderin, Miss Courtney Piers, ihr noch eine Kurzlauf-Steinschlosspistole für Jäger geschenkt, zumindest hatte sie das Ding so bezeichnet. Ein Großkaliber, mit dem man sogar Worgen umlegen könnte, wenn es sein müsste. Dabei war die Pistole eher klein, aber aus festem Stahl. Geschossen hatte Aliisa bislang noch nicht, aber sie war darauf schon gespannt. Auch wenn sie für die Jagd sicher bei leisen und eleganten Pfeilen bleiben würde, hatte das gemeinschaftliche Herumballern auf den armen Wolkensee ihr neulich ziemlich viel Spaß gemacht.

Nach der Eröffnung musste sie sich ratzfatz umziehen, um rechtzeitig zum - wieder einmal - Bogenschützenturnier zu kommen. Dabei hatte sie sich eigentlich erst gar nicht angemeldet gehabt, erst auf Nachfrage hin. Ihre Ambitionen bei solchen Dingen hatten sich erledigt. Aber gut, sie hatte sich angemeldet, um die Reihen aufzufüllen und dabei zu sein.

Beim ersten Mal auf dem Sonnenwendmarkt hatte sie gewinnen wollen, war sogar überzeugt davon gewesen, dass sie gewinnen würde, und war in der ersten Runde ausgeschieden. Dieses Mal hatte sie sie einfach nur dabei sein wollen und hatte mit einem Schuss ins Schwarze begonnen, der sie selbst verblüfft hatte. Die genau in der Mitte getroffene Strohscheibe war so ein schönes Bild! Die beiden folgenden Schüsse auf den ersten und zweiten Ring hatten aber ihre weiteren Aussichten arg getrübt. Nach der ersten Runde hatte sie das drittschlechteste Ergebnis von allen sechs Schützen und kam nur weiter, weil das Losglück sie mit dem ziemlich mie... äh ganz hervorragenden Schützen Sir Arken van Roth zusammengebracht hatte.

Und auch gegen diesen hätte sie ohne ihren ersten Glücksschuss verloren, denn nachdem er zweimal vorbei geschossen, oder genauer gesagt einen Fisch und den Hintern eines Knechts getroffen hatte, saß der dritte Schuss genau im Bullenauge. Unfassbar. Hätte sie eine sechs statt der zehn geschossen, wäre es das dann wieder gewesen, gegen einen Schützen, der nur einmal trifft...

Sie mochte sich das gar nicht ausmalen. Es war ja dann auch anders gekommen. In der zweiten Runde waren die drei Gewinner der ersten drei Paarungen gegeneinander angetreten. Es ging eigentlich 'nur' darum, nicht die letzte zu werden.

Aliisa schoss den ersten Pfeil auch auf das nun deutlich weiter hinten stehende Ziel mitten ins Bullenauge. Alystine de Montalbarn von den Füchsen und Dame - oder Sir? - Jacarda van Roth, nun adoptierte Tochter des Sir Arken van Roth, blieben ihr dicht auf den Fersen. Auch Aliisas zweiter Schuss in den neunten Ring war richtig gut, da reichte in der dritten Runde der etwas peinliche Treffer im dritten Ring, um nach Alystine de Montalbarn als zweite ins Finale einzuziehen. Sir Jac hatte es leider nicht geschafft, obwohl Aliisa es ihr wirklich gegönnt hätte.

Auf dem Sonnenwendfest hatte sie die junge Frau noch für einen Kerl gehalten, aber er - sie - war ihr auch als "Sir Jac" vorgestellt worden und im schummrigen Keller der Boxbar hatte sie dann einen jungen Kerl vor sich gesehen. Aliisa war nur froh, dass sie damals nicht mit ihm - äh ihr - geflirtet hatte, obwohl sie ihn interessant gefunden hatte. Dafür hatte sie dort als eine der ersten Svanjia freundschaftlich ins Herz geschlossen.

Das Finale wurden nun also unter Fuchs und auszubildendem Füchschen ausgetragen. Beide trafen mit dem ersten Schuss nur den vierten Ring der 90 Meter weit wegstehenden Zielscheibe. Aly schien davon enttäuscht, Aliisa war eigentlich total glücklich, das weit entfernte Ziel überhaupt getroffen zu haben. Beim zweiten Schuss konnte sie sich sogar auf den achten Ring steigern, wurde aber von Alys Volltreffer in die Mitte der Scheibe deklassiert. Ein sehr beachtlicher Schuss, zu dem Aliisa Alystine sofort beglückwünschte. Den dritten Pfeil versemmelte Aliisa bei zwei Punkten Rückstand in den fünften Ring und war sich eigentlich sicher, nur den zweiten Platz ergattert zu haben. Viel mehr, als das was sie anfangs ins Auge gefasst hatte, doch nachdem sie schon ins Finale gekommen war, auch irgendwie wieder enttäuschend. Doch wehte der Wind ihrer Mitausbilderin beim Abschuss etwas Dreck ins Auge und ihr Pfeil durchschlug nur den oberen Rand der Strohscheibe. Er verschwand dahinter im Dunkeln, eine hauchdünne 1. Und Aliisas Turniersieg! So hatte sie eigentlich nicht gewinnen wollen, doch als alle Welt ihr gratulierte, freute sie sich doch.

Aliisa schüttelte den Kopf. Unglaublich alles in allem, der gestrige Abend. Alystine meinte, im Falle ihres Sieges, hätte sie Aliisa den Preisbogen geschenkt, für ihre hervorragende Leistung im Turnier. Statt dessen kam dann sie etwas später mit einem Karton zu Lina und Aliisa, in dem es schabte und raschelte.

Als Aly ihn öffnete, kamen ein männlicher Fuchswelpe, ein weiblicher Wolfswelpe und ein ebenso weiblicher Hundewelpe zum Vorschein. Da sich Aliisa nicht zwischen Wolf - für die Baronie - und Fuchs - der Füchse wegen - entscheiden konnte, bekam sie beide überreicht und Lina bekam den Hundewelpen für den Hof im Tannengrund.

Alystine versprach Aliisa, ihr den Umgang mit den Tieren beizubringen. Das war auch notwendig, davon hatte Aliisa nicht viel Ahnung. Die Tiere auf dem heimatlichen Hof hatten irgendwie einfach so mit ihnen zusammen gelebt, ob und wie ihr Vater den Hofhund vielleicht mal erzogen hatte, hatte sie nicht miterlebt. Irgendwann war er verstorben und es hatte auch kein neuer seinen Platz eingenommen.

Die kleinen, wuseligen Tierchen hatte noch keine Namen. Da musste sie sich wohl welche Ausdenken. Wie sollte sie bloß einen kleinen Fuchsjungen und ein Wolfsmädchen nennen? Sie sinnierte ein wenig, aber da riss aus schon eine Frage von einem Stand her die Schützenkönigin aus ihren Gedanken.


Tanzübungen[]

Der Bursche hatte Glück, Aliisa war gerade von ihrem morgendlichen Waldlauf zurückgekommen und dem anschließenden, warmen Bad entstiegen. In einem flauschigen Bademantel und einem um die Haare gewickelten Handtuch öffnete sie auf das Klopfen hin die Haustür zu einem diesigen, kalten und trotz der Wolken schneehellen Morgen.

Ein sommersprossiger, vielleicht 15 Jahre alter Junge stand mit vier schweren Büchern bepackt vor der Tür und überreichte der verblüfften Aliisa den Stapel, den sie mit beiden Händen fasste, ehe er einen kleinen Brief obenauf legte und sich frech grinsend davon machte. "Willst du gar keine Honigplätzchen?" rief Aliisa hinter ihm her, aber der Bursche schüttelte nur den Kopf und ging seines Weges.

'Vermutlich wäre ich selbst für ihn auch interessanter als die Plätzchen.' ging es der nur ein Jahr älteren Jagdpächterin durch den Kopf. Bestimmt war ihr kurviger, unter dem Bademantel verborgener und bestimmt die jugendliche Phantasie beflügelnde Leib noch eine Weile das Thema verschiedener Vorstellungen des jungen Mannes. Sie schob die Tür mit dem Fuß zu und legte den Stapel erstmal auf einem Tisch ab.

Etwas später kehrte sie fertig angezogen und ordentlich gekämmt zu dem Bücherstapel zurück. Sie war gespannt, ob ihr wohl Konogar oder Teriton von Marlowe die Werke geschickt haben mochte und welchen Schulstoff sie behandeln würden. Entsprechend neugierig öffnete Aliisa das oben auf liegende Schreiben und las:

Liebe Miss Magnusson,

Wie von der Herrin gewünscht werde ich mich um die Grundausbildung der unterschiedlichen Tänze für den Empfang am Samstag kümmern. Ein guter Anfang ist wohl die Theorie. Ich habe in den beiliegenden Büchern Abschnitte zu den Tänzen Langsamer Walzer, Wiener Walzer, Tango, Samba, Rumba und Jive vorgemerkt. Damit sollten die ausladenden Wünsche der Freiherrin an eure Tanzkünste abgedeckt sein. Wir werden mit den Grundschritten der jeweiligen Tänze beginnen...vermutlich wird keine Zeit für Figuren bleiben. Ich bitte euch Text und Zeichnungen der Grundschritte der jeweiligen markierten Stellen zu studieren, da uns dies viel Zeit beim Proben ersparen wird und mir die Verwendung von Stahlkappenstiefeln.

Respektvoll

Hrothgard de Berthaind

"Stahlkapppen?" murmelte Aliisa etwas entrüstet. Sie beschloss sich, ganz besonders viel Mühe zu geben, um dem Sir de Berthaind zu beweisen, dass sie ihm keinesfalls auf die Füße treten würde. So machte sie sich gleich daran, das erste Werk aufzuschlagen, es war das oben liegende über den langsamen Walzer. Interessante Dinge standen darin. Der langsame Walzer war ein dreiviertel Takt, dementsprechend gliederten sich auch die Tanzfiguren in Abfolgen dreier Schritte, auf jede Note in dem Takt einen Schritt.

Es war, wie der Name es vermuten ließ, ein langsamer Tanz. Immerhin, da ließe sich wohl weniger falsch machen. Es war ja nun nicht so, dass Aliisa nicht tanzen konnte. Sie hatte zu Hause auf Dorffesten und anderen Anlässen immer schon getanzt, nur keine Schrittfolgen der Adelsleute. Sie wies gute Körperbeherrschung und Gleichgewichtssinn auf und hatte sogar mit Merten ein paar Mal getanzt, dem Apotheker und Medikus, der sie aus dem Hochland mit nach Sturmwind genommen und ihren ersten Freund abgegeben hatte. Sie schnaubte leicht verächtlich, als sie an ihn dachte, doch das gemeinsame Tanzen hatte ihr damals durchaus Spaß gemacht. In seinen Armen war es ihr leicht gefallen, auch unbekannten Figuren zu folgen.

Sie las weiter. Natürlich wurde ausgeführt, wie die Grundfigur zu tanzen sei, für die Dame: Ein Schritt mit dem linken Fuß nach hinten, dann mit dem rechten mit etwas Abstand daneben, und dann wird der linke Fuß zum rechten Fuß geführt. Sie legte den Brief in die Seite, stand auf und stellte sich in Position. Doch nach einem Blick auf ihre Füße entledigte sie sich ersteinmal ihrer dicken Fellpuschen und schlüpfte in ihre Sandalen.

Dann probierte sie die drei Schritte aus, wobei sie ihre Arme in die Tanzhaltung hob, den rechten locker ausgestreckt, die linke Hand auf dem imaginären rechten Oberarm des Herren. Sie zählte langsam den Takt vor sich hin: "Eins, zwei drei. Eins zwei drei." und begann dann im Takt mit dem Schritt nach hinten, zur Seite und heran. Dann war die Figur auch schon zu Ende.

Aliisa las nach, wie der Grundschritt nun wohl weitergehen würde. Da gab es offenbar verschiedene Möglichkeiten. Normalerweise ging es nun rechts nach vorn, links zur Seite und rechts heran an den linken Fuß, man konnte aber auch weiter rückwärts tanzen, indem man rechts zurück begann. Sie stand erneut auf und probierte beides. Im ersten Fall tanzte sie eine Art Rechteck auf dem gleichen Fleck, im zweiten Fall bewegte sie sich stetig rückwärts durchs Zimmer.

Es gab noch einige Anmerkungen dazu, wie diese Schritte zu erfolgen hatten: Gemessen und takttreu, beim geraden Schritt nach vorn (mit dem rechten Fuß) mit der Hacke zuerst den Boden berührend und deutlich, die folgenden beiden Schritte auf dem Ballen tanzend. Demzufolge war auch der erste Schritt "tief", die folgenden beiden "hoch", da die Hacke dabei ein wenig in der Luft zu schweben hatte. Dies solle man aber nicht zu deutlich ausführen, um nicht zu "hüpfen", aber durchaus beherzigen. Auch der erste Rückwärtsschritt wurde, etwas in die Knie gehend, ebenfalls "tief" ausgeführt. Außerdem sei der dritte Schritt mehr ein Heranführen, ein Wischen über den Boden, denn ein Stellen des Fußes.

Aliisa probierte und beherzigte, während sie immer wieder "Eins, zwei drei." leise vor sich hin sprach. Nach einer Weile klappte das mit dem hoch und tief und auch das Wischen recht gut. Sie erinnerte sich an die Warnung im dem Buch, stets genau auf die Musik zu hören, da gerade der Anfänger leicht sein eigenes Tempo einschlagen und insbesondere zu schnell werden könne, so dass das Tanzpaar nach einer Weile völlig neben dem Takt tanzen würde. So bemühte sich Aliisa, die Schritte gleichmäßig und genau auf den imaginären Takt zu setzen.

Zurück am Tisch erfuhr sie, dass die Möglichkeiten dieser doch recht einfachen Schrittfolge damit noch keinesfalls ausgeschöpft waren! Neben diesem "geraden" Grundschritt konnte man im Ablauf dreier Schritte entweder eine Vierteldrehung zurücklegen, und das nach rechts oder nach links, oder gar eine halbe Drehung! Auch diese rechts oder linksherum. Aliisa blinzelte ein wenig. Immerhin standen noch ein paar Ratschläge dabei, wie "Drehung aus der Schulter" oder "Wer rückwärts tanzt, macht dem Partner Platz".

Die Rechtsdrehung (in der ein-Viertel-Version) war gar nicht so schwierig, aber bei dem Versuch, sich nach links zu drehen, verknoteten sich Aliisas Füße. Erst als sie im Buch erfuhr, dass man hierbei mit dem rechten Fuß rückwärts und dem linken vorwärts tanzte, war es viel einfacher nachzuvollziehen! Fragte sich nur, wie man denn vom links zurück zu links vorwärts kam. Nach einigen Links- und Rechtsdrehungen las sie weiter und fand auch tatsächlich eine Erklärung für den Übergang:

Eine von vielen Möglichkeiten, stand da. Das war offenbar ein recht vielfältiger Tanz. Die Lösung war, dass die Dame gerade nach hinten tanzte, und danach weiter nach hinten tanzte, dabei aber in die Linksdrehung wechselnd. Dadurch, das der geradeaus-Teil drei Schritte betrug, hatten die Füße ihre Rollen gewechselt. Aliisa rieb sich die Stirn, doch nach einer Weile ließ es sich auf den abgeschliffenen Dielen des winterlich stillen Hauses tatsächlich hinbekommen, zwischen Rechts- und Linksdrehung hin und her zuwechseln. Und das war auch ganz gut, zu lange in eine Richtung zu tanzen, das war doch recht schwindelanfällig!

Zuletzt übte sie die rechte Einhalbdrehung. Doch als sie noch dabei war, das richtige Schwungholen aus der Schulter zu üben, kam Lina neugierig herein und Aliisa blieb abrupt stehen. Es war ihr etwas peinlich, dass sie Tänze übte, die ja nun auf Herr und Dame zugeschnitten waren. Oder beherrschte Lina vielleicht Herrenschritte? Die Umarmung wurde länger und die eifrige Schülerin zunächst doch sehr von ihrem Übungsgegenstand abgelenkt.

Erst eine ganze Weile später wendete sie sich wieder dem weiteren Übungsprogramm zu. Sie überflog die ganzen verwunderlichen Figuren des langsamen Walzers mit ihren seltsamen Namen wie "Außenseitlicher Wechsel", "Kreiseldrehung", "Wischer", "Chassé-Schritt", "Impetus", "Flechte" und so weiter. Die alle zu lernen hatte Aliisa bis zum nächsten Samstag gar keine Zeit! Aber Sir de Berthaind hatte ja auch geschrieben, dass die Grundschritte ausreichen würden. Aliisa war gespannt, ob die Grundschritte der anderen Tänze ebenso facettenreich sein würden.


Auf dem magischen Turnier[]

Aliisa schmunzelte, als sie beim Aufwachen die schwarze Plüschschlange mit ihren niedlichen Augen erblickte. Was sie mit der anstellen würde, wusste sie noch nicht genau, aber bis sie das richtige Kind zum Verschenken gefunden hatte, würde sie ihnen erstmal Gesellschaft leisten.

Es waren nun schon zwei der rauschenden Abende der großen Festivitäten um das magische Turnier des Hauses Hekate in Dalaran vergangen. Am ersten Abend hatte Aliisa mit vielen anderen zusammen die erlesenen Gäste des Auftakt-Banketts des Hauses Hekate bedient. Talischa und sie hatten den querstehenden Tisch mit den Gastgebern und Ehrengästen zugeteilt bekommen, wobei Aliisa ganz am Ende bei einem anderen Tisch eingesprungen war. Eine Reihe von Dienern hatten ihnen zur Seite gestanden, damit alle Gäste synchron und zeitgleich die Mahlzeiten serviert und wieder abgeräumt bekamen.

Sieben Gänge so wie einen achten Überraschungsgang gab es zu servieren und wieder fortzubringen. Zu jedem Gang hatte es zwei bis drei dazu ausgesuchte Getränke gegeben, stets einen Wein und einen Whiskey, zuzüglich zu Sonderwünschen der Gäste.

Den ganzen Abend über war nicht einmal Zeit gewesen, den Abort aufzusuchen. Aber es war entgegen Aliisas Befürchtungen alles gutgegangen! Lady Eleona meinte, das könne man sich verkneifen und das würde sie noch lernen, längere Zeit an sich zu halten. Also stand nun wohl auch noch Blasenbeherrschung auf dem beinahe wöchentlich voller werdenden Unterrichtsprogramm.

Am Ende hatte sie einen der aus Schokoladenmousse bestehenden Nachtische samt Sternenstaub produzierendem, langstieligen Löffel, den Lady Eleona ihr beiseite gestellt hatte, kosten dürfen. Alles andere wurde gespendet. Besonders gut hatte für sie der kleine Zwischengang mit dem Ziegenkäse geduftet, aber mit Schokolade konnte man bei ihr nichts falsch machen. Und Herr (!) von Teichert - nicht Sir, wie sie sich nun einzuprägen hoffte - hatte sich auch bei ihr bedankt. Sie kannte ihn schon von einem Planungsgespräch, zu dem sie Lady Eleona hatte begleiten dürfen und bei dem sie all die noch zu klärenden Punkte festgehalten hatte.

Ihr hatten zwar am Ende des Abends die Füße gequalmt, aber es war dennoch eine große Ehre und Freude, in einer so herrlichen Kulisse solche exorbitant erlesene Speisen zu kredenzen. Lady Eleona hatte sich dabei selbst übertroffen - wobei, genaugenommen wusste Aliisa das gar nicht, da es das erste von Lady Eleonas Banketten war, an dem sie in irgendeiner Form Teil hatte. Es war erstaunlich. Vor anderthalb Jahren kannte sie nicht mehr als ihr Heimatdorf und das daneben, hoch oben in einem der hintersten Winkel der Berge des Arathihochlands. Und jetzt nahm sie an einem solch rauschenden Fest teil. Nicht als Gast, ja, aber überhaupt!


Der gestrige Abend hatte im Rampenlicht des Auftakts des magischen Turniers gestanden. Sie hatte durch die Vorbesprechungen von der Aufteilung in Adel und Pöbel gewusst. Nur hatte sie da, planend mit Lady Eleona und Herrn von Teichert, nicht daran gedacht, dass sie natürlich auf der Pöbelseite bleiben würde. Dafür waren abgesehen von Grafenpaar ziemlich viele andere Leute aus der Baronie auf ihrer Seite anwesend. Außerdem hatte Aliisa am Stand dort eine Plüschschlange erwerben können: Ein niedliches, schwarzes, etwa 30 cm langes Geschöpf aus weichem, plüschigem Stoff und zwei niedlich emporglupschenden Glasäuglein, samt ebenfalls niedlich heraushängender Zunge. Die beeindruckende Statue der Veranstalterin, Lady Heltai Hekate, hatte preislich mit fünfhundert Goldstücken 'etwas' über ihren Möglichkeiten gelegen. Vielleicht würde sie sich heute aber noch so einen Anstecker besorgen.

Von der eigentlichen Attraktion, den Aufgaben, die die Kandidaten zu leisten hatten - es galt mit Hilfe zweier zufällig aus einem Beutel gezogener Hilfsmittel sowie der Magie über einen See zu gelangen - hatte sie gar nicht so viel mitbekommen. Dafür hatten sich viele interessante Gespräche ergeben.

Als sie Austreten musste, hatte sie auf dem Weg zu den ihr unbekannten Örtlichkeiten ein im Durchgang des Einganges stehendes Pärchen gefragt, sie auf Krücken an der Wand, er neben ihr. Die Wegbeschreibung "raus und dann rechts" hatte sich als richtig erwiesen, man könnte dem dann noch ein "der Nase nach" hinzufügen. Natürlich hatte sich vor dem Bereich für die Damen eine Schlange gebildet. Trotzdem war sie nicht dem frechen Vorschlag gefolgt, einfach über den Rand der fliegenden Stadt ..., sondern hatte artig gewartet.

Als Aliisa eine ganze Weile später wieder zurückkam, hatte sie sich mit den beiden Leuten im Durchgang noch eine Weile nett unterhalten. Sie hieß Lady Sida von ... sie hatte es schon wieder vergessen, "Lightblade" vielleicht? Er nannte sich Streuner - oder war es "Streicher" gewesen? So oder so waren sie ins Gespräch gekommen, bis die Dame die Feierlichkeiten verließ und der Herr sich von Aliisa beschreiben ließ, wo sie die Plüschschlange erworben hatte. Später hatte sie ihn mit diversen Schlangen und Zauberstäben behängt von dort zurückkommen sehen.

Im Gespräch hatte sich die Dame sehr interessiert Aliisas Kleid angeschaut, das Winterhauchgeschenk von Lady Eleona, in einer Ausdauer, die sich auch nur eine Frau erlauben konnte, und belustigt erklärt: "Ich kann deine Brüste sehen." Aliisa war nichts anderes übrig gewesen, als zu erklären, dass das ja auch so gedacht sei und dass sie angenommen habe, auch auf dem magischen Turnier würde schon freizügigeres getragen und nicht erst auf dem Maskenball, der im Volksmund auch gern als Nacktball bezeichnet wurde.

Am Schluss des Abends hatte die plötzliche Erkenntnis gestanden, dass ihre Hochzeit wohl schon nächsten Monat stattfinden würde! Aliisa rappelte sich bei dem Gedanken daran sofort aus dem Bett auf - die andere Hälfte lag wie oft schon verlassen da - und machte sich noch im Nachthemd und vor der Morgenwäsche daran, ihrem Vater und ihrem Bruder in die Heimat zu schreiben. Hoffentlich würden sie es rechtzeitig schaffen.

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